TEXT: ALEXANDRA MARKL
Willkommen in der Welt des Art Speak, der wunderbaren Kunstsprache von und für Eingeweihte! Gespickt mit Fremdwörtern, Schachtelsätzen und Eigenheiten in Grammatik und Syntax. Ein Selbstversuch im Sommer 2024, diesen Codes auf die Spur zu kommen.
„Das Projekt, das den ekstatischen Zustand des Mystischen mit dem agnostischen und iterativen Charakter des Wissenschaftlichen verbindet, nimmt in der Ausstellung die Form alchemistischer Diagramme, eines Gemäldes und eines farbenfrohen Comics an.“
Ich stehe in der Kunsthalle Wien in der Ausstellung „Genossin Sonne“ vor einem bunten, großformatigen Ölgemälde der englischen Künstlerin Suzanne Treister. Es zeigt eine Art Mindmap: Kreise und Quadrate, in denen etwa „the sublime function of dark matter“ oder „interplanetary dreamtime“ steht. Um Verständnis bemüht, habe ich das Begleit-Booklet zu Rate gezogen, bin aber definitiv nicht klüger als zuvor. Wo im Bild ist bitte der ekstatische Zustand des Mystischen? Und was bedeutet „iterativer Charakter“?
Liegt es an mir?
Aber vielleicht liegt es ja an mir. Ich bin keine Kunsthistorikerin; ich habe nicht jahrelang an der Universität gelernt, wie man Gemälde beschreibt und versteht. Meine einzige Ausbildung ist die des Schauens: Seit mittlerweile 30 Jahren sehe ich mir Kunst an. Als Teenager liebte ich etwa die Impressionisten und klapperte alle französischen Museen nach Monet & Co ab (ich bin bis nach Giverny gereist, nur um die echte Brücke aus den Bildern von Claude Monet zu sehen). Meine Klimt-Phase führte mich von dessen Villa im 13. Wiener Bezirk bis in die neue Galerie nach New York. Die zeitgenössische Kunst entdeckte ich dank „My Bed“: Das ungemachte Bett der englischen Künstlerin Tracey Emin rührte mich 1999 in London zu Tränen. Und letztes Jahr reiste ich schließlich auf die japanische Insel Naoshima, um dort Yayoi Kusamas berühmten Kürbis am Strand endlich persönlich zu begutachten.
Je mehr ich sehe, desto weniger verstehe ich
Mit diesem Kunsttourismus bin ich keineswegs alleine. Millionen Menschen besuchen zu Hause oder auf Reisen Museen und Kunstgalerien. Wir alle wollen etwas lernen, sehen, erleben. Aber: Je mehr zeitgenössische Kunst ich sehe, desto weniger verstehe ich die Texte dazu.
Früher dachte ich, es gehört sich eben so, dass ich nichts kapiere, weil ich ja nicht Teil der Kunstblase bin. Heute hinterfrage ich das. Soll der Schlüssel zum Verständnis für Kunst nur für die wenigen Glücklichen sperren, die zum inneren Kreis zählen? Sollte Kunst nicht barrierefrei sein und daher nicht nur Kunstwerke, sondern auch Texte bieten, die ein breites, an zeitgenössischer Kunst interessiertes, internationales Publikum erreichen?
Ein solches findet sich etwa im Wiels, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Brüssel. Dort heißt es dann über die Ausstellung der jungen Künstlerin Jana Euler:
„Jana Eulers Ausstellung Oilopa, eine Zusammenziehung der Begriffe Oil (Malerei) und Europa, entfaltet sich in einem halb-utopischen Land, das die aufsteigenden Ströme von Finanzzahlen umkehrt und Zyklen von Überschuss und Leere extrapoliert.“
Ich weiß jetzt nicht, welches Publikum das erreichen soll – mich jedenfalls nicht. Ich kenne zwar die einzelnen Begriffe, aber nicht deren Bedeutung im Text. Wie kann ein halb-utopisches Land Finanzzahlen umkehren und extrapolieren? Das ist jedoch (leider) noch nicht alles:
„Bei diesen Fantasien geht es weniger um einen eskapistischen Reflex vor dem Realen als vielmehr um die Eröffnung von Perspektiven auf dessen pervertierten Prozess.“
Na dann. Ich gebe auf.
Aber gut, vielleicht ist die tiefere Bedeutung eines Kunstwerks eben nur schwer in Worte zu fassen. Wird es einfacher, wenn nur die Materialien beschrieben werden, mit denen diese Kunst geschaffen wird? Ich versuche es mit einer anderen Ausstellung im Wiels, über die Künstlerin Alexis Blake, die in ihren Performances Glas verwendet. Dazu fällt dem Museum Folgendes ein:
„Glas existiert zwischen einem Zustand von ,ganz, und ,zerbrochen,. Wenn es ,zerbrochen` ist, macht es sich selbst ,unbrauchbar`.”
So weit, so klar: Glas ist kaputt – oder eben nicht (mit Anführungszeichen oder ohne). Weiter heißt es:
„Diese wahrgenommene Zerbrechlichkeit geht über eine buchstäbliche Interpretation der Materialität hinaus und erstreckt sich auch auf den soziopolitischen Bereich. Der Akt des ,Zerbrechens` bringt einen in Konflikt mit entgegengesetzten Kräften und schafft eine Spannung zwischen den Begriffen Unterdrückung und Befreiung.“
Uff. Glas auf der Meta-Ebene! Und man weiß nun immerhin um die soziopolitischen Bedeutungen, wenn einem mal ein Glas aus der Hand fällt. Aber im Ernst – und bleiben wir mal beim Art Speak: Woher kommt diese Passion für Konfusion?
„Art Speak is a crime.“ – Hilde Lynn Helphenstein
Die Geheimsprache der Kunstwelt
Vielleicht will die Kunstblase ja einfach ganz unter sich weiterblubbern und hält daher an ihren verklausulierten Texten fest. Art Speak ist, so wie die Kunstwelt, ein internationales Phänomen: wo ein Museum, da ein schwurbeliger Text an der Wand. Aber ist das heute auch für die Eingeweihten noch in Ordnung? Eine, die sich immer wieder darüber (und über die Kunstblase im Allgemeinen) lustig macht, ist die amerikanische Künstlerin und Autorin Hilde Lynn Helphenstein, die unter dem Pseudonym Jerry Gogosian (das sich aus dem Vornamen des Kunstkritikers Jerry Saltz und dem verdrehten Nachnamen des Inhabers einer der größten Kunstgalerien weltweit, Larry Gagosian, zusammensetzt) ihre Memes veröffentlicht. Sie erreicht auf Instagram 144.000 Follower, denen sie klar und deutlich mitteilt: „Art Speak is a crime.“
Und Jerry hat recht. Denn Art Speak schafft Distanz: Es ist eine Kunstsprache, und zwar im doppelten Sinn. Erstens als Sprache über Kunst, und zweitens ist Art Speak als Sprache selbst „Kunst“ – beziehungsweise künstlich. Eine Sprache, von der die längste Zeit niemand zu behaupten wagte, dass man sie nicht kapierte, um nicht als dumm und ungebildet dazustehen. Aber was, wenn es nichts zu verstehen gibt? Wenn, wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, der Kaiser – also der Text – nackt ist?
Barrierefreie Kunst
Gerade heute will Kunst doch möglichst viele Menschen ansprechen. (Ich klammere hier den Kunstmarkt bewusst aus, der tatsächlich nur Eliten zugänglich ist.) Kunst, wie sie in Museen ausgestellt, auf Kunstmessen gezeigt, in Galerien sichtbar, im öffentlichen Raum erlebbar ist, für wenig oder kein Geld, barrierefrei. Gerade im Zeitalter der Achtsamkeit müsste sich diese mit ihren Texten an ihr diverses Publikum anpassen. Wer alle ins Boot holen will, muss deren Sprache sprechen.
Manchen Institutionen gelingt das bereits. Bei der Biennale in Venedig etwa waren sich einige Länderpavillons ihres Auftrags wohl bewusst, für alle da zu sein. Australien etwa hat nicht nur wegen seiner berührenden Darstellung der Verfolgung und geschichtlichen Auslöschung seiner First People den Preis der Biennale verdient erhalten, sondern auch wegen des wirklich schlüssigen Erklärungstextes an der Wand:
„…ein schwarzes Becken, eine Gedenkstätte für Menschen der First Nations, die in staatlicher Haft gestorben sind, und die verdeutlicht, dass die australischen Ureinwohner zu den am häufigsten inhaftierten Menschen weltweit gehören."
Klar und eindringlich.
Eine Kunstsprache für alle
Die Hochzeit des Art Speak könnte also bald vorbei zu sein – einfach, weil sie dem Zeitgeist widerspricht. Für Texter*innen, die bisher mit kryptischen Formulierungen nur so um sich warfen, könnte eine anstrengende Zeit anbrechen. Verständliche Texte zu produzieren, ist eine Herausforderung und wesentlich mehr Arbeit, als ein paar gut klingende Fremdwörter aus dem Thesaurus zu holen. Ein verständlicher Text muss kein dummer Text sein: „Klug ist jener, der Schweres einfach sagt“, wusste schließlich schon Einstein.
Fühlen wir uns also nicht als Idiot*innen! Hinterfragen wir die Schwurbeleien, hinter denen so oft nichts steckt. Texte sollten sich am Bild orientieren, eine Einheit schaffen und im besten Falle verständlich sein. Kunst ist für alle da: Erinnern wir den Kunstbetrieb daran.
Unsere Autorin
Alexandra Markl wandte sich nach dem Studium der Rechtswissenschaften ihrer eigentlichen Leidenschaft, dem Journalismus, zu. Nach 15 Jahren im englischsprachigen Ausland und der Absolvierung eines Master Degree in Journalismus in London kehrte Alexandra nach Wien zurück, wo sie als freie Journalistin im Kulturbereich arbeitet.