TEXT: KATJA HORNINGER
Die Lebensrealität von Menschen mit Reizdarmsyndrom ist geprägt von Schmerzen, Ängsten und Scham, gleichzeitig herrscht viel Unwissen über die Krankheit. Ein Beitrag zur Aufklärung.
Leben mit einer chronischen Krankheit
„Werde ich das Essen vertragen? Wo ist die nächste Toilette? Was, wenn wieder Bauchschmerzen kommen? Am besten, ich bleibe zu Hause.“ Die Gedankenwelt von Reizdarmpatient*innen ist oft von Angst überschattet, der Alltag stark eingeschränkt, Scham ein ständiger Begleiter. Viele ziehen sich zurück, verlassen ungern die eigene Wohnung, wo sie ohne Erklärungsnot auf die Toilette können. Soziale Aktivitäten werden vermieden.
„Auswärts essen macht mir Angst, da ich nicht weiß, wie mein Darm reagiert. Vor wichtigen Terminen stehe ich früher auf, nur um dann fünf Minuten bevor ich das Haus verlassen muss, eine Reizdarm-Session zu haben und letztlich zu spät zu kommen. Ich hab es leider schon mal nicht rechtzeitig aufs Klo geschafft – seitdem ist die Angst vor Durchfall mein Begleiter“, erzählt Cari. Sie ist vom Reizdarmsyndrom und einer damit verbundenen Angststörung betroffen. Auf Social Media macht sie als digital creator anderen Betroffenen Mut und gibt Einblicke, wie ein Leben mit der chronischen Krankheit möglich ist. „Reisen konnte ich lange nicht. Nur dank meiner Verhaltenstherapie reise ich jetzt eben ‚mit Angst‘. Bei längeren Autofahrten hab ich ein mobiles Klo dabei und beim Fliegen mein eigenes Essen“, berichtet Cari.
Darm und Psyche – ein enger Draht
Bei Menschen mit Reizdarm herrscht Aufruhr im Darm. Der Darm wird als Last und Gefahr empfunden. Dabei ist dieses Organ eigentlich ein Wunderwerk. „Der Darm ist das Zentrum unserer Gesundheit. Alles hängt mit ihm zusammen. Ohne den Darm würden wir nicht überleben“, erklärt die Darmexpertin und Fachärztin für Chirurgie Birgit Dinnewitzer. Hauptaufgabe des Darms ist es, die Nahrung zu verdauen. Er ist auch ein wichtiger Hormonproduzent. „Das darmeigene Immunsystem ist unsere erste Abwehrbarriere. Wenn diese nicht funktioniert, kann auch vieles andere im Körper nicht funktionieren“, sagt Dinnewitzer. Auch das für unsere Gesundheit zentral wichtige Mikrobiom befindet sich im Darm. Dieses versorgt uns mit lebenswichtigen Nährstoffen und Vitaminen und entsorgt, was nicht benötigt wird.
Reizdarmerkrankte spüren intensiv, wie eng Darm und Psyche miteinander verknüpft sind. „Meistens ist es die Angst vor Symptomen, die meine Beschwerden dann auch tatsächlich triggert. Die Darm-Hirn-Achse ist so stark und hat unglaublich viel Einfluss“, erzählt Cari. Aber auch gesunde Menschen fühlen diese Verbindung, etwa durch Durchfall vor einer Prüfung. Umgekehrt kann auch ein kranker Darm der Psyche zu schaffen machen. Erst seit wenigen Jahren beginnt die Wissenschaft genauer zu verstehen, wie unser Darm mit unserem Gehirn kommuniziert. Im Embryo sind Darm und Gehirn eng verbunden, da sie aus dem gleichen Gewebe gebildet werden. Später teilt sich das Nervenknäuel in je ein Nervensystem für das Gehirn und für den Darm. Diese bleiben über den Vagusnerv miteinander verbunden. Auch Botenstoffe im Blut verbinden Darm und Gehirn. Über die sogenannte Darm-Hirn-Achse teilt der Darm dem Gehirn mit, wie es ihm geht. 90 Prozent der Informationen gehen vom Darm Richtung Gehirn. Eine zentrale Rolle nimmt dabei das Mikrobiom ein. Die Darm-Hirn-Achse ist eine ständig kommunizierende Datenautobahn von Signalen. „Diese Signale haben großen Einfluss auf unsere Verdauung“, sagt Darmspezialistin Dinnewitzer. „Wenn wir gestresst sind und den Fokus nicht beim Essen haben, nicht daran riechen, nicht gut kauen, dann wissen die Verdauungsorgane nicht, dass Essen kommt und sie können sich nicht vorbereiten. Völlegefühl, Fettstühle oder Blähungen sind oft die Folge. Hält das über längere Zeit an, kann es zu einer Fehlbesiedlung oder zu einem Ungleichgewicht der Darmbakterien, einer sogenannten Dysbiose, kommen“, so die Expertin.
„Der Darm wird immer empfindlicher und im Gehirn werden diese eigentlich normalen Vorgänge schließlich als Schmerzen verarbeitet.” - Birgit Dinnewitzer
Krankheit mit vielen Gesichtern
Laut Schätzungen sind bis zu zehn Prozent der Menschen weltweit am Reizdarmsyndrom erkrankt. Häufig verläuft der Reizdarm chronisch. Betroffene haben eine normale Lebenserwartung und die Beschwerden führen nicht zu Organschäden. Gleichzeitig ist das tägliche Leben aber oft sehr eingeschränkt.
Zum Krankheitsbild, das nicht einheitlich ist, zählen krampfartige Bauchschmerzen, Blähungen, Spannungs- und Völlegefühl sowie ein aufgeblähter Bauch, Übelkeit, Verstopfung oder Durchfall oder beides im Wechsel. Die Bauchschmerzen treten häufig in Zusammenhang mit dem Stuhlgang auf. Auch vom belastenden Gefühl einer unvollständigen Darmentleerung wird berichtet. Begleiterscheinungen sind Erschöpfung und gedrückte Stimmung, oft auch Schmerzen in anderen Körperregionen sowie Depressionen und Angststörungen.
Schwierige Ursachenforschung
Das Reizdarmsyndrom ist eine funktionelle Darmerkrankung, für die keine organischen Ursachen gefunden werden können. Vieles deutet auf eine Kombination aus biologischen, sozialen und psychologischen Faktoren hin. Biologisch betrachtet können genetische Komponenten oder ein verändertes Mikrobiom sowie mehr Entzündungszellen im Darm Auslöser sein. Auf psychologischer und sozialer Ebene kann es einen Einfluss haben, wie jemand als Kind aufgewachsen ist oder ob es Traumatisierungen gab. „Wenn über lange Zeit Bauchbeschwerden bestehen, verschiebt sich die Wahrnehmungsgrenze für normale Verdauungsvorgänge. Der Darm wird immer empfindlicher und im Gehirn werden diese eigentlich normalen Vorgänge schließlich als Schmerzen verarbeitet“, erklärt Birgit Dinnewitzer.
Beim Reizdarmsyndrom ist die Darm-Hirn-Achse gestört, wodurch das Zusammenspiel des Darmnervensystems mit dem zentralen und vegetativen Nervensystem verändert ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der Vagusnerv, der die Verdauung reguliert, beteiligt ist. Auch Serotonin, das zu über 90 Prozent im Darm gebildet wird und zusammen mit anderen Botenmolekülen die Darmbewegungen und weitere Funktionen steuert, scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Zudem könnten eine eingeschränkte Darmbarriere oder ein gestörter Gallensäurestoffwechsel Ursachen sein. Birgit Dinnewitzer berichtet, dass das Reizdarmsyndrom oft aus einem Magen-Darm-Infekt entstehen kann: „Wenn Beschwerden nach einem solchen Infekt zu lange andauern, kann es zur Fehlregulation des Immunsystems kommen. Obwohl der Virus schon längst weg ist, werden dann die eigenen Darmnervenzellen angegriffen.“
Diagnose als Ausschlussverfahren
Das Reizdarmsyndrom zu diagnostizieren, ist für Ärzt*innen häufig eine Herausforderung. Bisher gibt es kein Verfahren, mit dem ein Reizdarm eindeutig nachgewiesen werden kann. „Es darf natürlich nichts übersehen werden“, sagt Ärztin Dinnewitzer. „Die Grundabklärung ist immer gleich: Dazu zählen Labor, Tests auf Unverträglichkeiten, die Überprüfung von Alarmsymptomen wie Blut im Stuhl sowie Fragen rund um die Beschwerden“, so die Expertin. Auch Ultraschalluntersuchungen und Darmspiegelungen werden je nach Beschwerdebild gemacht. „Andere Erkrankungen müssen als mögliche Ursache für die Beschwerden unbedingt ausgeschlossen werden“, betont die Medizinerin.
Reizdarm – ein Leben lang?
Das Reizdarmsyndrom ist derzeit nicht durch eine bestimmte Therapie heilbar. Es gibt jedoch Behandlungsansätze, die die Symptome lindern können, um die Lebensqualität zu verbessern. Birgit Dinnewitzer ist überzeugt, dass ein Reizdarm ganzheitlich behandelt werden sollte. „Wir Menschen sind so komplex. Ohne das große Ganze geht es nicht. Der Behandlungsansatz umfasst Ernährung, Mikrobiom. Nährstoffmedizin, Ruhetraining, körperliche Bewegung, Yoga, Selbstfürsorge und Resilienztraining“, erklärt die Ärztin. Und ergänzt: „Reizdarmpatient*innen sind chronische Schmerzpatient*innen, weshalb es wichtig ist, auf Ressourcenstärkung zu setzen. Die Darmhypnose stellt in gewisser Form eine Abkürzung zum Thema Ressourcen dar.“ Auch Dinnewitzer setzt bei ihren Patient*innen die Hypnose für den Bauch ein. „Die bauchgerichtete Hypnose ist aus guten Gründen in den Leitlinien zur Therapie des Reizdarmsyndroms fest verankert. Sie zeigt in Studien signifikant positive Effekte. Aber natürlich auch als ein Puzzleteil von vielen Therapieansätzen.“
„Für Frauen, die doppelt so häufig betroffen sind wie Männer, ist Reizdarm oft besonders belastend. Die Beschwerden treten häufig abhängig vom Zyklus auf."
Eine kognitive Verhaltenstherapie kann ein Weg sein, um den Alltag besser zu meistern. Damit hat Cari gute Erfahrungen gemacht: „Seit meiner Verhaltenstherapie hat sich in meinem Kopf viel verändert. Ich hab die Angst angenommen und arbeite nicht mehr gegen sie.“ Sie habe verstanden, dass es immer eine Lösung gibt – selbst wenn es der nächste Busch ist. „Ich habe auch schon mal bei Fremden geklingelt und gefragt, ob ich aufs Klo darf. Auch das war kein Problem“, erzählt die Betroffene. Auf Reisen achtet Cari darauf, ihr Nervensystem runterzufahren – mit Noise-Cancelling-Kopfhörern, Atemübungen oder Ablenkung durch Gespräche. „Offene Kommunikation ist so wichtig: Ängste ansprechen, dem Gegenüber erklären was los ist – das nimmt unglaublich viel Druck.“
Das Thema Ernährung wird in diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert, da die Verträglichkeit von Lebensmitteln sehr individuell ist. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass die Low-FODMAP-Diät beim Reizdarmsyndrom gute Erfolge erzielt. Dabei muss allerdings das Mikrobiom ausreichend geschützt werden. Birgit Dinnewitzer erzählt, dass Reizdarmpatient*innen dazu neigen, immer mehr Lebensmittel wegzulassen. Kurzfristig führe das auch zu einer Verbesserung. „Langfristig kommt es zu einer Verarmung des Mikrobioms, was wiederum andere Probleme mit sich bringt, weil gewisse Nährstoffe nicht aufgenommen werden. Eine Spirale nach unten“, so die Ärztin.
Schmerz- und Schamthema Reizdarm
Für Frauen, die doppelt so häufig betroffen sind wie Männer, ist Reizdarm oft besonders belastend. Die Beschwerden treten häufig abhängig vom Zyklus auf. „Durch Hormone getriggert wird das Reizdarmsyndrom oft in der zweiten Zyklushälfte schlechter, Richtung Menstruation und danach meist ein wenig besser. Wenn es während der Menstruation besonders schmerzhaft ist, muss abgeklärt werden, ob Endometriose eine Rolle spielt“, sagt Dinnewitzer.
Fast die Hälfte aller Frauen mit Reizdarmsyndrom leiden auch unter dem Prämenstruellen Syndrom. Sowohl körperliche Symptome wie Verstopfung und Blähungen als auch psychische Symptome sind in dieser Zeit stärker ausgeprägt und können sehr beeinträchtigen. Ob und wie sich die Beschwerden nach den Wechseljahren verändern, kann aufgrund der Studienlage nicht gesichert gesagt werden. Auch ein stark aufgeblähter Bauch gehört oft zum Krankheitsbild. In einer Welt, die vom Ideal der schlanken Frau geprägt ist, wird ein Bauch voller Luft schnell zur psychischen Belastung und führt zu Body-Shaming vom eigenen Körper sowie zu sexueller Unlust. Auch beim Dating kann Reizdarm aufgrund der Unvorhersehbarkeit von Symptomen, eingeschränkter Essensmöglichkeiten und Sorge vor Blähungen oder plötzlichem Stuhldrang eine Herausforderung sein.
Foto: Roman Odintsov/pexels
Aufklärung und Enttabuisierung
Reizdarm ist nach wie vor ein Tabuthema. Gleichzeitig sorgen neben Betroffenen wie Cari auch immer mehr Mediziner*innen wie Birgit Dinnewitzer in den Sozialen Medien für Enttabuisierung. Auch Podcasts machen das Thema sichtbar. So klärt die Diätologin Margarita Strimitzer mit ihrem Podcast „Klo-Talks“ ganz ohne Scham zum Thema auf. Und auch der „Reizdarm Podcast“ will das Thema endlich aus der Tabuzone holen. Doch auch wenn das Umfeld Bescheid weiß, verständnisvoll und offen ist, ist es für Betroffene oft nicht leicht: „Mein Partner und meine Freund*innen sind zum Glück super empathisch und geben mir zu keiner Zeit das Gefühl, eine Last zu sein. Aber ich hab das Gefühl eben in mir“, berichtet Cari.
Was sich Cari wünscht, ist generell mehr Verständnis für Reizdarmpatient*innen – auch von Ärzt*innen. Denn nach wie vor würden Betroffene oft mit Ratschlägen wie „Machen Sie mehr Sport“ oder „Entspannen Sie doch mal“ entlassen. „Auch denken viele Menschen noch, dass Reizdarm nur ein bisschen Durchfall ist. Doch es hängt so viel mehr mit dran. Erschöpfung, starke Schmerzen, Isolation, Nährstoffmangel oder oft eben auch Angststörungen. Und meist sieht man uns das nicht an – deshalb: Seid emphatisch und habt Verständnis. Wir geben schon alle täglich unser Bestes.“
Im Interview
Cari Speck ist selbst betroffen vom Reizdarmsyndrom und berichtet als digital creator auf Instagram sowie auf TikTok über ihren Alltag und wie man trotz chronischer Erkrankung auf Reisen gehen kann.
Dr. Birgit Dinnewitzer hat 2005 promoviert und ihre chirurgische Ausbildung in Salzburg absolviert. Seit 2024 hat die Fachärztin für Allgemein- und Viszeralchirurgie ihre eigene Praxis für Endoskopie, Proktologie, Longevity, Infusionstherapie und Ernährungsmedizin in Steyr/Oberösterreich. Sie unterstützt Menschen auf ihrem Weg zur Darmgesundheit.
Unsere Autorin
Katja Horninger ist Kommunikationsmensch aus Leidenschaft. Nach ihrem Studium der
Kommunikationswissenschaften war sie viele Jahre in der PR tätig. Heute arbeitet sie als
freie Autorin, Kommunikationsbeauftragte an der Uni, Porträtfotografin sowie Yoga- & Polarity-Lehrerin. Als ewig Lernende liebt sie es, in ihrem vielfältigen Tun zu erforschen,
wie Worte uns berühren und bewegen, wie wir uns durch die Sprache mit anderen
verbinden und wie wir unsere Innenwelt über Bilder und unseren Körper zum Ausdruck bringen können. Katja lebt in Wien.