Wandern bei Schlechtwetter! Schwimmen im Winter! Ein Hoch auf die Kälte! Sätze wie diese liest man nicht oft, zumindest nicht ohne ein Fragezeichen am Ende. Im Winter sitzen die meisten Menschen nun einmal lieber gemütlich zuhause als durch den Regen zu zockeln oder sich schlotternd ins kalte Wasser zu werfen. Doch es gibt immer mehr Menschen die der Überzeugung sind, dass gerade die Kälte uns durchaus gut tun kann. Für solche Leute gibt es kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung.
Dass uns frische Luft gut tut, ist natürlich nichts Neues. Gerade letzten Winter haben viele von uns mehr Zeit in der Natur verbracht als jemals zuvor und dabei selbst festgestellt, dass Körper und Seele vom einfachen draußen sein profitieren. Doch die Bereitschaft, dieses Wissen auch alltagstauglich und regelmäßig bei sehr kalten Temperaturen, oder ungemütlichem Wind umzusetzen, hält sich bei vielen dann doch eher in Grenzen. Da ist es passend, dass Populärkultur, Forschung und Pandemie der Kälte gerade einen Image-Umschwung bescheren. Doch was ist wirklich dran, am Frieren für die Gesundheit?
Trends mit Tradition
Auf Instagram gehören Winterbaden und Kältetraining zu den derzeit angesagten Sujets, speziell unter Sportlern, Wellness-Gurus und Beratern aller Art. Angespornt wird die “Interessensgemeinschaft Schüttelfrost” durch neue wissenschaftliche Studien und den Erfolg von Biohacking-Gurus wie Wim Hof, auch “Iceman” genannt. Der dänische Extremsportler hat bereits 16 Mal den Weltrekord für den längsten Ganzkörperkontakt mit Eis gebrochen und tritt prominent dafür ein, die Kraft der Kälte für das eigene Wohlbefinden zu nutzen.
Was bei uns als Trend gilt, hat anderswo allerdings schon lange Tradition. Fast überall, wo es einmal im Jahr klirr kalt wird, gibt es Bräuche, die auf einer Abhärtung des Menschen gegen die rauen Wintertemperaturen beruhen. In China, Kanada, Russland, Finnland und im gesamten deutschsprachigen Raum wird zum Beispiel die Kultur des Ganzjahresbadens besonders gepflegt. Natürlich werfen sich nicht jedes Jahr tausende Menschen ohne Grund in eisige Fluten: der schockartigen Kälteeinwirkung, wie bei dem in Finnland zelebrierten Kurzbad im Eisloch (“Avantouinti” genannt), wird seit jeher eine positive Wirkung zugeschrieben.
Doch wer das Gute am kalten Winter entdecken will, muss nicht gleich Extrem-Aktionen setzen. In vielen den Teilen der Welt, wo der Winter lange oder das Wetter oft übel ist, hat sich eine stolze, direkt trotzige Einstellung gegenüber suboptimalen Wetterbedingungen entwickelt. Zeit in der Natur zu verbringen wird als fixer Bestandteil des Lebens gesehen – egal zu welcher Jahreszeit oder bei welcher Witterung. Diese triumphierende Nonchalance gegenüber der Wettervorhersage hat der viktorianische Philosoph John Ruskin besonders schön auf den Punkt gebracht:
"Sonnenschein ist köstlich, Regen erfrischend, Wind fordert heraus, Schnee macht fröhlich; im Grunde gibt es kein schlechtes Wetter, nur verschiedene Arten von gutem Wetter."
Auch in Skandinavien lassen sich Spaziergänger, Sportler und Familien herzlich wenig von der Witterung einschränken. Die Bedeutung von Freiluftaktivitäten, die nichts mit Leistung oder Wettbewerb zu tun haben, wird in nördlichen Breitengraden besonders ernst genommen – speziell im Zusammenhang mit einer gesunden, glücklichen Kindheit. In Schweden ist das ausgiebige, genüssliche Erkunden von Wäldern, Wiesen, Seen und Stränden sogar als allgemeines Zugangsrecht (“allemansrätten”) gesetzlich verankert. Das bedeutet, auf privatem Land darf gezeltet, ein Lagerfeuer gemacht, Rad gefahren und alles Mögliche noch gemacht werden, solange es nicht in unmittelbarer Nähe zu Privathäusern stattfindet.
Auch in Norwegen gibt es diesen stark ausgeprägten Drang, Zeit unter freiem Himmel zu verbringen. “Friluftsliv” (in Deutsch: Freiluftleben) ist das skandinavische Trendwort du jour und läuft derzeit dem dänischen “Hygge” und dem schwedischen “Lagom” den Rang ab. Kein geringerer als Henrik Ibsen hat dieses Wort 1859 das erste Mal in seinem epischen Gedicht “Auf den Höhen” gebraucht, in dem er die jahrelange Wanderung eines jungen Mannes durch die Schönheit der Norwegischen Natur beschreibt. In Norwegen besucht man die Natur nicht, man lebt in ihr. Der durchschnittliche Norweger verbringt dreimal die Woche mehrere Stunden an der frischen Luft. Ob beim Fischen, Beeren pflücken, Wandern oder einfach in die Luft schauen, was zählt ist das erhebende Gefühl von Verbundenheit mit der Natur – und das rund ums Jahr. Dabei hier und da etwas zu frieren, gehört zu einem erfüllten, gesunden Norwegerleben einfach dazu.
Gesundheit am Gefrierpunkt
Kältebehandlungen aller Art liegen derzeit hoch im Kurs – von der Wechseldusche bis zur Kältekammer. Die Bandbreite der Gesundheitsprobleme, vor denen Kältebehandlungen schützen sollen, wird niemanden kalt lassen: Diabetes, chronische Entzündungen, Schilddrüsen Probleme, Hormonschwankungen, Rheuma, Depressionen, Fettleibigkeit und sogar Krebs.
Viele von diesen Wirkungen sind wissenschaftlich noch nicht ausreichend belegt. Einige Studien, die es schon gibt, machen allerdings durchaus neugierig. Forscher an der MedUni Wien fanden einen Zusammenhang zwischen kalten Umgebungstemperaturen und dem Vitamin A-Spiegel bei Menschen und Mäusen. Ein hoher Vitamin A-Spiegel wiederum begünstigt die Umwandlung von weißem Fettgewebe (wo Energie gespeichert ist) in braunes Fettgewebe (wo Energie in Wärme umgewandelt werden kann). In anderen Worten, wenn der Körper friert, wird die Fettverbrennung erleichtert. Noch ist es aber umstritten, ob man durch Kälteanwendungen mehr oder schneller abnehmen kann.
Auch spannend ist die Frage, ob der Mensch es erlernen kann, die körpereigenen Kälteschutz-Mechanismen zu steuern und zu nutzen. Wim “Iceman” Hofs Philosophie gründet auf der Annahme, dass jeder Mensch lernen kann, das eigene Nerven- und Immunsystem bewusst zu steuern. Die “Wim Hof Methode” setzt auf Atemübungen, Meditation und schiere Abhärtung, um die eigene Toleranzgrenze immer weiter auszudehnen und dabei Gesundheitsprobleme loszuwerden. “Geist über Materie” lautet Hofs Devise und seine Schüler erhoffen sich ein gestärktes Immunsystem, ein leichteres Gemüt, Schutz vor chronischen Gelenkentzündungen und vieles mehr. Die Hoffnung, die viele in Methoden dieser Art setzen, ist groß - die Zahl der evidenz-basierten Belege leider bisher noch nicht. Es gibt zwar einige relevante Studien, unter anderem auch solche, die Hof persönlich und seinen Zwillingsbruder unter die Lupe nehmen. Doch sie reichen nicht aus, um Hofs gesundheitliche Versprechen solide zu untermauern.
Wer lieber nicht gleich zum Iceman mutieren will, kann sich auf andere Art mit dem Frost anfreunden: zum Beispiel mit der Überwindung zu regelmässigen Winterspaziergängen, Wechselduschen oder einem Kurzbad im Eisbecken nach dem Saunagang. Auch wenn der innere Schweinehund und die Erkältungspanik laut protestieren: Menschliche Körper halten deutlich mehr Kälte aus, als sie hierzulande gewohnt sind – dafür haben tausende Jahre an Evolution gesorgt.
Bei der nächsten Kaltfront müssen wir also nicht gleich sämtliche Outdoor-Pläne über den Haufen werfen. Wetterfeste Kleidung und wasserdichtes Schuhwerk nehmen dem Winter die Macht über unsere Freizeitgestaltung und sollte uns von einem bisschen Kälte nicht zurückhalten sondern beleben lassen!