Interview: PAMELA RUSSMANN
Aus der schönsten Nebensache der Welt ist ein kapitalistisch ausgeschlachteter Performancedruck geworden, konstatiert die Kulturwissenschaftlerin Beate Absalon. „Not giving a fuck” heißt ihr neues Buch über lustlosen Sex und sexlose Lust. Darin legt sie uns mit kluger Entspanntheit neue Gedanken und Gefühle über sexuelle und nicht-sexuelle Bedürfnisse auf die Bettkante. Wir haben mit ihr über die Schattenseiten von Sex Positivity, streikende Körper und Dating-Apps gesprochen.
Das myGiulia-Leitthema im August lautet „What a feeling“. Welches Gefühl verbindest du mit Sex?
Im Englischen würde ich „anticipation“ sagen, was im Deutschen leider meist als „Vorfreude“ übersetzt wird. In der englischen Bedeutung dieser gebannten Erwartungshaltung darf aber beides gleichzeitig da sein: Freude und Angst. Und ich mag an dem Wort Antizipation, dass es sich auf einen Zustand bezieht, der noch nicht eingetreten ist. Das verbinde ich auch mit Sex, dieses ewige Umkreisen von etwas, das sich irgendwie nicht endgültig zu fassen kriegen lässt.
„Statistiken prägen unser Verständnis von Sex. Wenn wir wissen, wie oft Menschen im Durchschnitt Sex haben, ist damit aber nichts über die Qualität ausgesagt.”
Dein Buch trägt den Titel „Not giving a fuck", du bist aber keine Sexualtherapeutin, sondern Kulturwissenschaftlerin. Wieso hast du ein Buch über sexuelle Unlust, sexlose Lust und lustlosen Sex geschrieben? Es ist ja kein Ratgeber geworden.
Ratgeber haben eine Tendenz, Heilung zu versprechen und dafür ein möglichst effizientes Rezept zu liefern. Das gewünschte Endziel steht dabei meist schon fest. Und meist läuft es darauf hinaus, dass einem versprochen wird, nach der Flaute im Bett wieder Wind in die Segeln zu bekommen. Ich habe dabei oft den Eindruck, in eine fertige „So-soll-es-sein“-Schablone hineingezwängt zu werden. Der kulturwissenschaftliche Zugang schafft eine andere Linderung. Das Leiden wird in größere geschichtliche und gesellschaftliche Kontexte gestellt. Man versteht, dass nicht man selber „falsch“ ist, sondern etwas an den Verhältnissen nicht stimmt. Das ist extrem entlastend. Und es fordert, eigensinnige Umgangsweisen mit dem eigenen Liebesleben zu finden, die dann auch wirklich was mit einem zu tun haben, statt nur einer äußeren Norm zu entsprechen.
Beate Absalon: „Unter dem männlichen Blick gelten Frauen als ‚Trophäen’, solange sie nicht mit zu vielen Männern schlafen, aber bei ihrer keuschen Zurückhaltung gleichzeitig verführerisch und willig bleiben.” / Foto: Maria Leibnitz
Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, zu sagen: „so und so oft – das ist normal“?
Die Frage nach dem „Wie oft” ist eine Frage der Vermessung, also ein naturwissenschaftlich-experimenteller Zugang. Sexualwissenschaftler*innen wie Alfred Kinsey, William Masters und Virginia Johnson haben das in den 1950er/1960er-Jahren populär gemacht. Bis heute prägen Statistiken unser Verständnis von Sex. Dabei bleibt aber auch vieles auf der Strecke. Wenn wir wissen, wie oft Menschen im Durchschnitt Sex haben, ist damit nichts über die Qualität ausgesagt. Erst vor Kurzem bin ich über eine Studie gestolpert, in der Forschende eine Korrelation zwischen Zufriedenheit und regelmäßigem Sex festgestellt haben und davon ausgingen, dass sich das Glück der Studienteilnehmenden verdoppeln müsste, wenn sie doppelt so oft miteinander schliefen. Ihre Zufriedenheit nahm jedoch ab. Nicht Sex ist wichtig für das Glück. Sondern die Frage, worauf wir Lust haben und was ermöglicht uns, das Leben zu genießen.
Du bist Teil der so genannten sexpositiven Bewegung. Erklär bitte mal: Worum geht es da und wieso bist du nicht mehr so happy mit dem Status quo dieses Lebensstils?
Sexpositive Bewegungen richten sich gegen Sexfeindlichkeit, also gegen Tabuisierungen, die Erziehung zur Abstinenz oder moralisierende Verbote. Sexpositiver Feminismus setzt auf Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt und auf das Gebot der Einvernehmlichkeit: Alles kann, nichts muss (solange sich alle Beteiligten darauf einigen). Dagegen habe ich nichts einzuwenden, im Gegenteil. Ich habe nur den Eindruck, dass Sexpositivität allein nicht ausreicht. Nicht nur, weil Sexpositivität wieder Druck erzeugen kann, jetzt besonders viel oder ausgefallenen Sex haben zu müssen. Sondern weil patriarchale Unterdrückung viele Gesichter hat. Nicht nur sexuelles Austoben wird unterdrückt, sondern auch das Recht, keinen Sex zu haben. Wir gelten als frigide, langweilig und kaputt, wenn wir es zu selten treiben. Es herrschen paradoxe Gebote. Unter dem männlichen Blick gelten so manche Frauen als besondere „Trophäen“, solange sie nicht mit zu vielen Männern schlafen, aber bei ihrer keuschen Zurückhaltung gleichzeitig verführerisch und willig bleiben. Deswegen schlage ich vor, dass es neben Sexpositivität auch Sexnegativität benötigt, verstanden als eine kritische Analyse von dem Sex, der uns aufgezwungen wird und unglücklich macht.
Streiken unsere Körper, unsere Sinne, unsere Lustrezeptoren, weil sie „klüger" sind als unser Geist und nicht mehr länger performen wollen um des Performens willen?
Symptome wie Vaginismus, Erektionsstörungen, Lustlosigkeit oder auch Panikattacken können viele Ursachen haben. Aber ja, es ist die These meines Buchs, dass die Materie unseres Körpers eigensinnig und vielleicht auch auf verschlungene Weise intelligent ist. Ich möchte vorschlagen, mit unliebsamen Störungen, die dem erhofften „So-soll-es-sein“-Sex im Weg stehen, nicht gleich auf Kriegsfuß zu gehen, sondern sich ihnen auch mal neugierig und wertfrei zuzuwenden. Was, wenn wir auf ihre Widerspenstigkeiten einen zwar nicht beschönigenden, aber schonenden Blick werfen? Vielleicht sind sie auf unserer Seite? Vielleicht wollen sie uns etwas mitteilen? Vielleicht lehnen sie sich für uns gegen etwas auf? Vielleicht geraten wir dank ihnen neben die erstrebte Spur und damit in interessante Gefilde?
„Die Gen Z bezeichnet sich zunehmend als freiwillig zölibatär. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass sie sich nicht gegen Sex an sich wenden. Sie haben einfach eine bestimmte Form von Sex satt.”
Soziale und gesellschaftliche Bewegungen verlaufen in Wellen und sind Reaktionen auf Gepflogenheiten davor. Nachdem lange Jahre vieles unter dem knackigen, großflächig anerkannten Motto „Sex sells" lief: Sind Menschen, die kein gesteigertes Interesse für sexuelle Aktion verspüren, 2024 im Trend?
Das könnte man so schlussfolgern, wenn It-Girls wie Julia Fox die Augen verdrehen und Sex als langweiligste Sache der Welt bezeichnen. Vor allem Frauen, aber auch die Generation Z bezeichnen sich zunehmend als freiwillig zölibatär. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass sie sich nicht gegen Sex an sich wenden. Denn es gibt nicht „den“ Sex. Sie haben eine bestimmte Form von Sex satt. Ich vermute, es ist der Sex, den ich in meinem Buch anhand von vier Merkmalen beschreibe: 1.) wenn davon ausgegangen wird, dass Sex zwangsläufig stattfinden muss, 2.) wenn er mit großer Bedeutung überladen ist, 3.) wenn er als strategisches Instrument eingesetzt wird und 4.) wenn er in seiner Allgegenwart auf eine gefräßige Art und Weise andere Formen von Intimität verdrängt.
Du beschreibst in deinem Buch, dass die Qualität einer Paarbeziehung daran festgemacht wird, wie regelmäßig Sex stattfindet. Beziehungen werden in Frage gestellt oder beendet, wenn die Lust auf den Partner / die Partnerin nicht mehr da ist. Ist eine Paarbeziehung nur dann wertvoll, wenn Sexualität und Intimität miteinander gelebt werden?
Ich finde es befremdlich, dass sexuelle Anziehung oft der wichtigste oder gar einzige Grund ist, warum man mit jemandem eine Partnerschaft eingeht und sich dann wundert, wenn es auf anderen Ebenen mit dieser Person nicht harmoniert. Was in einer Paarbeziehung wertvoll ist, sollten die Beteiligten der jeweiligen Paarbeziehung entscheiden. Sex kann für viele wichtig sein. Intimität ist aber etwas anderes als Sex. Sie kann sich auf vielen Ebenen äußern. Weiß man, wie der andere in gereizten Momenten beruhigt und unterstützt werden kann? Feiert man gegenseitige Erfolge? Praktiziert man Akzeptanz bei den Macken des anderen, traut sich aber dort zu konfrontieren, wo es inakzeptabel wird? Hat man gemeinsame Baderituale? Hält einen die Leidenschaft fürs Wandern oder ein ehrenamtliches Engagement zusammen? Liebt man gemeinsame Restaurantbesuche oder teilt eine Passion für Videospiele?
„Intimität ist etwas anderes als Sex.”
Sind queere Beziehungen von diesem Elend ausgenommen?
Von dem Elend, nur aufgrund von Schuldgefühlen und Verlustängsten ins Bett getrieben zu werden? Ich denke, Personen, die nicht normkonform begehren, müssen sich aus ihrer Not heraus meist mehr mit sich und ihrem Sexleben beschäftigen. Das hat den Vorteil, ein besseres Gefühl für die eigenen Bedürfnisse entwickeln zu können und sich den Umständen zum Trotz selber ernst zu nehmen und treu zu bleiben. Aber aus dem Normbruch können schnell neue Normen entstehen. Queere Beziehungen sind nicht immun gegen die vier Aspekte, die ich vorhin erwähnt habe und die Sex ungenießbar machen. Auch Personen auf dem LGBTQIA+-Spektrum können Sex instrumentalisieren. Gerade weil queere Identitäten so sehr über Sexualität definiert werden, kann Sex zu etwas Zentralem werden. Das kann andere Weisen verdrängen, über die wir uns und unseren Lebensstil definieren. Und es kann Menschen unter Zugzwang stellen, Sex ebenso zum Lebensmittelpunkt zu machen, obwohl sie sich für Sex vielleicht gar nicht so interessieren.
Wie sieht es mit den Gefühlen bei den jeweiligen Geschlechtern aus: Fühlen sich Männer, die keinen Sex haben, gesellschaftlich/sozial mehr unter Druck gesetzt als Frauen in einer „Dürreperiode“?
Es ist auffällig, dass ich vorhin von einer Bewegung der freiwillig Zölibatären sprach, die vornehmlich von Frauen zelebriert wird. Demgegenüber bezeichnet der Begriff „Incels“ meist Männer, die sich im unfreiwilligen Zölibat befinden. Incels sind Männer, die meinen, ein Anrecht auf Sex mit Frauen zu haben und bei Nichterfüllung Hass und Terror schüren. Das ist ein Extrembeispiel, das auf einen besonderen gesellschaftlichen Druck hinweist. Anscheinend müssen Männer, um als „echte“ Männer zu gelten, sexuell aktiv sein. Und zwar auf eine ganz bestimmte Art und Weise: fickend, mächtig, potent. Zum Glück ändert sich das Männerbild aber immer mehr, zumindest in einigen Kreisen. Ihr Spielfeld erweitert sich. Zuneigung, Anerkennung oder das Spüren des Körpers können dann auch durch Zärtlichkeiten, Umarmungen (auch unter Männern) oder durch eine gesunde Streitkultur ausgelebt werden.
Feministische Selbstbestimmung bedeutet auch, jederzeit so viel Sex haben zu dürfen mit so vielen Partner*innen, wie man will, ohne deswegen als Schlampe geschimpft zu werden. Ist eine Frau weniger feministisch, wenn sie dieses sexuelle Austoben für sich aber nicht in Anspruch nehmen möchte und freiwillig abstinent lebt?
Selbstbestimmung heißt, selber zu bestimmen, wie viel, aber auch wie wenig Sex man haben möchte.
„Sex ist eben nicht Privatsache. Er wird gesellschaftlich verwaltet. Mit Sex lassen sich Produkte verkaufen. Und er strukturiert soziale Beziehungen.”
Wenn jemand kein oder kein gutes Gefühl Richtung Sex in sich spürt (temporär oder generell), ist dieser Mensch ein Mangelwesen? Der Druck, Sex zu haben und sich (konsensuell) sexuell auszudrücken, ist in unserer Gesellschaft ja recht ausgeprägt.
Man könnte es ja auch umdrehen und sagen, dass diejenigen Mangelwesen sind, die nicht über die Fähigkeit verfügen, Unlust zu spüren. Oder dass es an der Erlaubnis mangelt, keinen Sex oder kein Interesse an Sex zu haben. Impotent wäre dann, wer die Schlaffheit nicht aushält. Denn die hat ihre eigene Fülle, ist nicht nur ein „Fehlen“.
Warum irritiert es in unseren aufgeklärten, liberalen Zeiten, wo ja eh alle machen können, was und wie sie wollen, wenn jemand sagt, ich lebe ohne sexuelle Beziehung?
Anscheinend haben wir es mit einer Scheinfreiheit zu tun, wenn Sexlosigkeit bedrohlich genug wirkt, dass Menschen beleidigt, bemitleidet, gerettet oder missioniert werden, auch wenn es einem egal sein könnte, ob die Leute ihr Glück im Vögeln oder auf andere Weise finden. Sex ist eben nicht Privatsache. Er wird gesellschaftlich verwaltet. Mit Sex lassen sich Produkte verkaufen. Und er strukturiert soziale Beziehungen. Wenn Menschen jetzt die „Frechheit“ besitzen, aus diesem Spiel auszusteigen, sind sie weniger greifbar, weniger vorhersehbar, vielleicht auch weniger manipulierbar. Und weil sie anders sind als die Norm, machen sie das eigene, vermeintliche „normale“ Verhalten hinterfragenswert. Und das kann beunruhigend wirken. Lohnt sich aber.
Muss immer alles „repariert" werden? Weil in der Leistungsgesellschaft alle funktionieren müssen, auch im Bett?
Ein großes Glück kann darin liegen, sich zu erlauben, nicht zu funktionieren und stattdessen wirklich Anteil zu nehmen an dem, was gerade wirklich abgeht und lebendig zu spüren ist. Und das kann eben auch das vermeintliche Scheitern oder die vermeintliche Störung sein. Wenn wir aufhören, sie und damit uns selbst und das jetzt gerade wirklich stattfindende Leben zu vermeiden, dann kann sich entfalten, was sich viele eigentlich vom „funktionierenden“ Sex wünschen: sich voll angenommen fühlen, sich verletzlich machen dürfen, sich hingeben. Das, was sexualmedizinisch „repariert“ werden soll, bezieht sich zudem meist nur auf funktionierenden Geschlechtsverkehr. Sex kann aber viel mehr sein, als nur Genitalität. Und wenn die mal nicht regelkonform funktioniert, könnten wir uns daran erinnern, dass unser ganzer Körper und Geist eine erogene Spielfläche bilden.
Kann das „Fehlerhafte", die bewusst gelebte Nicht-Sexualität, also die Leistungsverweigerung, dennoch Erotik haben?
Erotik und Sex sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Das altgriechische Wort beschreibt ein übermenschlich starkes Verlangen, bei dem die Gottheit Eros die Finger im Spiel hat. Mit erotischer Leidenschaft kann sich auch der philosophischen Wahrheitssuche oder politischen Ambitionen hingegeben werden. Viele, die auf Sex bewusst verzichten, beschreiben, dass sie eine Leidenschaft für neue Hobbies entwickeln, Selbstfürsorge kultivieren oder zu neuen Perspektiven gelangen. Nicht nur Sex lässt im Sinne der Fortpflanzung neues Leben entstehen. Auch der Verzicht darauf ist eine schöpferische Kraft.
Du zitierst im Buch einen Artikel aus dem britischen Guardian aus dem Jahr 2023, der sich mit dem Anstieg von freiwillig zölibatär lebenden jungen Menschen beschäftigt und die damit happy sind. Ich habe den Artikel damals auch gelesen, und mir gedacht, irgendwie logisch – wenn man sich nur im Freundeskreis umsieht, wie desaströs die Erfahrungen mit Dating-Apps sind. Mensch bzw. der menschliche Körper ist damit zur Ware geworden – entschuldige meine Wortwahl – und es ist eigentlich egal, ob ich auf Instagram scrolle, bei Zalando durch 13000 Fotos von gestreiften Blusen klicke oder Fotos von Männern / Frauen nach links oder rechts wische...Kategorie „Hat sich die Menschheit selbst eingebrockt“ also?
Wenn man sich die Suppe selber einbrockt, dann heißt es, müsse man sie jetzt auch auslöffeln. Das klingt ein wenig nach „selber Schuld“. Ich finde es aber wichtig, nicht immer nur an sich selbst herumzuschrauben, um Veränderungen zu bewirken,oder einzelnen Individuen die Schuld zuzuschieben, sondern vor allem an den Strukturen zu arbeiten. Was sind die Bedingungen, auf denen ein lustvolles Leben gedeihen kann? Klar können wir aufhören, Dating-Apps zu nutzen, weil wir erkennen, dass wir andere Menschen damit wie auf einem Markt auswählen und bei Nichtgefallen wieder zurück ins Regal stellen. Aber wichtig ist die Frage, was wir stattdessen machen können. Welche Alternativen gibt es zu Dating-Apps und wie können wir ein Umfeld schaffen, in dem wir einander anders begegnen können?
Was hat der Turbokapitalismus mit dieser Entwicklung zu tun?
Die Soziologin Eva Illouz hat viel dazu geforscht, wie sich der Kapitalismus auf unser Verständnis von Liebe, Intimität und Sex auswirkt und ich finde ihre Thesen überzeugend. Als kapitalistisches Subjekt ist man es gewohnt, sich für eine Ware zu entscheiden und aus einem Überfluss an Auswahl immer nach der besseren Wahl zu suchen. Immer zu optimieren. Das wirkt sich auch auf die Art unserer Partnerwahl aus. Vielen fehlt es an Commitment, also Verbindlichkeit und gegenseitiger Verpflichtung. Außerdem verändert es unser Sexualverhalten insofern, dass nicht mehr das Erleben von sexuellen Genussgefühlen wichtig wird, sondern eher das Investieren in sein eigenes sexuelles Kapital. Es wird wichtiger, als begehrenswert zu erscheinen, ein wildes Sexleben zu performen und sich als leistungsstarker Lover zu inszenieren, um im sozialen Konkurrenzkampf die besseren Karten zu haben. Es lohnt sich, sich bei seinen eigenen sexuellen Avancen immer wieder zu fragen: Worum geht es mir hier eigentlich? Lasse ich mich auf die Begegnung und auf mein Gegenüber ein? Oder schaue ich vor allem, welche Vorteile ich aus der Beziehung ziehen kann?
„Man kann sich während des Sex auch einfach mal in einen inneren Monolog begeben und sich fragen: ‚Wie geht es mir gerade?’“
Was ist deiner Meinung nach lebendige Intimität?
Wenn sich auf die gerade wirklich lebendig vorhandenen Impulsen eingelassen wird und es sich stimmig anfühlt, was man tut. Wenn das ganze Spektrum an Gefühlen wahrgenommen werden darf, nicht nur die erwünschten Gefühle wie Freude oder Lust. Wenn man mehr Weite und Expansion wahrnimmt, weniger Einschränkung und Entfremdung. Aber das sind alles abstrakte Begriffe. Ich kann ein Beispiel aus meiner eigenen sexuellen Biographie teilen, das für mich enorm bedeutsam war, obwohl von Außen betrachtet nichts Spektakuläres passiert ist. Da war ich noch ein Teenager und es war ein fast revolutionäres Gefühl, als ich mit einem Liebhaber den Sex unterbrochen habe, weil ich Durst hatte und etwas trinken gegangen bin. C’est ça. Aber es war bedeutsam, weil ich mir das vorher nicht erlaubt hätte. Irgendwie war Sex eher wie so ein Tunnel. Wenn man einmal anfängt, dann muss man da auch durch. Der Ablauf folgte einem klaren Skript. Der lebendige Impuls des Durstes hat mich dazu gezwungen, nicht mehr auf Autopilot zu handeln. Ich musste unbeholfen und unsexy sagen: „Äh, du, warte mal, ich hol mir kurz was zu trinken.“ Eine Kleinigkeit, aber für mich total irre, dieses Gefühl, mich selber ernster zu nehmen, als die Situation. Und danach zu merken, wie viel näher und vertrauter ich mich ihm danach fühlte, weil ich mit meinen basalen Körperimpulsen akzeptiert wurde. Man könnte auch von integrer Intimität sprechen, aber das rollt nicht so gut über die Zunge.
Und wie finde ich nun am besten heraus, was mir sexuell gut tut?
Auch hier lohnt es sich, sich selbst neugierig und liebevoll zuzuwenden und sich selber nichts vorzumachen. Man kann sich während des Sex vielleicht auch einfach mal in einen inneren Monolog begeben und sich selber fragen: „Wie geht es mir gerade?“ Und dann schauen, welche Antworten kommen. Dann kann man nochmal fragen, aber diesmal: „Und wie geht es mir wirklich?“ Und dann schauen, welche Antworten kommen. Man kann seinen Körper von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke einmal durchscannen und wahrnehmen, was man so spürt. Fühlen sich Körperbereiche entspannt, verkrampft, kribbelig, zugeschnürt, durchlässig oder sonstwie an? Das Gleiche kann man sich fragen, wenn man dezidiert auf Sex verzichtet. Denn sexuelles Wohltun kann auch heißen, dass es einem gut tut, keinen Sex zu haben. Und weil Sex einen so hohen gesellschaftlichen Stellenwert hat, lohnt es sich darüber hinaus, diese Neugier auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen. Wie finde ich heraus, was mir freundschaftlich gut tut? Oder ernährungstechnisch oder spirituell oder selbstfürsorglich…
Ein geflügeltes Wort lautet: „Alles auf der Welt dreht sich um Sex – nur nicht der Sex, der dreht sich um Macht.“ An diesen Spruch musste ich beim Lesen deines Buches mehrmals denken…
Das kann ich gut verstehen, würde aber wieder ergänzen: Nicht Sex dreht sich um Macht, sondern das, was unsere Gesellschaft aus Sex macht, dreht sich um Macht. Ich schreibe in meinem Buch darüber, dass mir Sex leid tut. Man könnte mit ihm ja auch ganz anders umgehen, als damit, aus ihm größeres Kapital schlagen zu wollen. Vielleicht könnte man mit ihm umgehen, wie mit Flirten. Sobald ich bei einem Flirt merke, einer von uns verfolgt eine klare Agenda und strebt ein festes Ergebnis an, vergeht mir der Spaß. Dann fühlt es sich eher wie eine Vertragsaushandlung an. Lebendig wird es da, wo wir uns aufeinander einlassen, uns verspielt Bälle zuwerfen und dabei offen bleiben dafür, wohin uns unsere Begegnung wohl führt. Flirten mache ich aus keinem anderen Grund, als am aufrichtigen Vergnügen des Flirts.
Im Interview
Beate Absalon hat Kulturtheorie und Geschichte an der Humboldt Universität in Berlin und Kunsttheorie in London studiert. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und forscht zu zeitgenössischer Sexualkultur. Unter dem Label „luhmen d’arc” bietet sie Workshops zu sexuellen Spielformen an, in denen Mehrdeutigkeiten, sozio-politischen Zusammenhängen und Gefühlen wie Unbeholfenheit oder Schüchternheit Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Ihr Buch „Not giving a fuck” ist im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen.
Unsere Autorin
Pamela Rußmann fotografiert seit ihrer Jugend, hat die Fotografie zum Beruf gemacht und lässt parallel dazu stets die Liebe zu(m) Texten mitschwingen. Sie arbeitete ab 1996 als Kulturredakteurin und Moderatorin beim ORF-Radiosender FM4, rief dort den Literaturwettbewerb „Wortlaut” ins Leben, war 2007 Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“ und fast eineinhalb Jahrzehnte Redakteurin der Sendung. In ihrem Buch „Irgendwann geht auch das vorbei“ (Leykam) fotografierte und interviewte sie Frauen auf der ganzen Welt während der Corona-Pandemie via Videotelefonie. Seit 2022 ist Pamela Rußmann Chefredakteurin von myGiulia. Sie lebt und arbeitet als Fotografin, Autorin und Journalistin in Wien.