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„Dinge können sich nur ändern, wenn wir darüber sprechen”

INTERVIEW: PAMELA RUSSMANN

Celsy Dehnert fällt durch sehr ehrliche, ungeschönte Postings auf Instagram auf, in denen sie über ihren Alltag als Mama, ihr Engagement für Kinder in Armut und die Hochschaubahn des persönlichen Lebens berichtet. Die Journalistin, Autorin und Dozentin hat nicht der Algorithmus im großen digitalen Rauschen zu uns geführt, sondern eine Empfehlung der von uns hochgeschätzten Podcasterin und Autorin Beatrice Frasl. Sie hatte Celsy besonders hervorgehoben, weil sie jemand sei, der differenziert, der nicht mit dem Strom schwimmt, sondern in der ihr eigenen Art ganz genau hinschaut, auch wenn es wehtut. Und das finden wir auch: Die Mutter von zwei Kindern lebt in der niedersächsischen Provinz und will die Perspektiven jener zeigen, die keine Lobby haben. Ihre Kernthemen sind soziale Gerechtigkeit, Selbstständigkeit mit Kind(ern), Mutter- bzw. Elternschaft, Partnerschaft und Kreativität. Wir wollen euch diese mutige Frau vorstellen.


Celsy Dehnert im Interview mit myGiulia I Journalistin & Dozentin I Soziale Gerechtigkeit I Instagram I Foto © Tassja Rother
Celsy Dehnert, Journalistin & Dozentin / © Tassja Rother

Du hast als selbstständige Unternehmerin natürlich eine eigene Website – und die nennt sich: Eine fixe Idee. Wie bist du auf diesen Namen gekommen und wofür steht er?

Celsy Dehnert: Als „fixe Idee“ bezeichnen wir im Volksmund Vorstellungen oder Pläne, die für den durchschnittlichen Menschen ein bisschen überzeichnet, unrealistisch oder sogar völlig außerhalb jeder Realität erscheinen. Wiktionary definiert fixe Ideen als „unrealistische Vorstellung oder Meinung, auf die jemand fixiert ist“. Und ich glaube, besser könnte man meine Vision einer gerechten, solidarischen Gesellschaft gar nicht beschreiben. Als ich während meiner Chemotherapie über ein neues, eigenes Onlinemagazin nachgedacht habe, wollte ich einen Ort schaffen, an dem wir uns erlauben, zu träumen. An dem wir eine Gesellschaft wagen, die bedingungslos solidarisch miteinander ist und in der Exzentrik ihren Platz hat. Ich wollte einen Ort abseits des Mainstreams schaffen, an dem auch die Stimmen Gehör finden, die sonst untergehen. So wurde der Name geboren.


Gerechtigkeit, Klassismus und Gesellschaft. Das sind komplexe, oft schwer zu durchdringende Themen. Hast du diese Themenbereiche gesucht oder haben sie dich gefunden?

Sie sind von klein auf Bestandteil meines Lebens. Ich glaube, wenn man in den Umständen aufgewachsen ist, die ich erlebt habe, kann man gar nicht anders als sich mit Fragen zu Gesellschaft und Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Mein Gerechtigkeitssinn war immer schon riesig. Auch habe ich schon immer Antworten darauf gesucht, was unsere Gesellschaft eigentlich zum Ticken bringt, warum Menschen bestimmte Dinge tun und vor allem: wieso bestimmte Geschichten eigentlich immer wieder ungehört bleiben. Wieso so viele Menschen still leiden, während unsere Zeitungen voll von reichen und mächtigen Menschen sind. Da ich schon immer im Internet gewohnt habe, war es einfach naheliegend, mich vor allem auf Blogs und Social Media mit diesen Fragen zu beschäftigen. Wenn Informationen immer nur wenige Klicks entfernt sind, war es für mich nur logisch, diese zusammenzutragen und meine Stimme zu nutzen, um Dinge zu thematisieren, die in meinen Augen zu kurz kamen. Seit 2019 schreibe ich auf Instagram regelmäßig über Gerechtigkeitsthemen. Tatsächlich war ich eine der ersten, die vor allem die Themen Armut, soziale Ungleichheit und Klassismus in deutschen, politischen Mom-Bubbles diskutiert hat. Denn leider ist es auch auf Instagram so, dass der Diskurs vor allem aus einer sehr privilegierten, wohlhabenden, komfortablen Perspektive geführt wird.


Celsy Dehnert auf Instagram: @celsy.dehnert


Inwiefern möchtest du zu einer gerechteren Welt beitragen?

Dinge können sich nur dann ändern, wenn wir darüber sprechen. Also mache ich genau das – ich nutze meine Talente und meine Stimme dafür, um Ungerechtigkeiten zu offenbaren und Impulse für mögliche Lösungen und Verbesserungen zu setzen. Aber ich bin auch ganz praktisch unterwegs, indem ich einigen Ehrenämtern nachgehe. Ob als Vorsitzende des Kita-Beirats oder beim Runden Tisch gegen Rassismus – ich bin felsenfest der Überzeugung, wenn wir nicht aktiv etwas ändern, bewegt sich nichts.


„Tatsächlich war ich eine der ersten, die vor allem die Themen Armut, soziale Ungleichheit und Klassismus in deutschen, politischen Mom-Bubbles diskutiert hat. Denn leider ist es auch auf Instagram so, dass der Diskurs vor allem aus einer sehr privilegierten, wohlhabenden, komfortablen Perspektive geführt wird.”

Worüber kannst du dich so richtig aufregen? Was macht dich wütend?

Mich macht die schamlose Ignoranz wütend, mit der man armen Menschen immer wieder vorwirft, sie seien faul, ungebildet und bräuchten nur die richtigen Anreize, um zum Mittelstand aufzuschließen. Denn darin entblößt sich, wie viele Menschen die Lüge der Leistungsgesellschaft glauben, die uns vermittelt, wir müssten uns nur alle genug anstrengen, damit wir in Saus und Braus leben können. In unserer Gesellschaft haben Menschen umso mehr Wert, je größer ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt ist. Dabei ignorieren wir vollkommen, dass unbegrenztes Wachstum immer einen Preis hat. Florierende Großunternehmen etwa fußen oft auf schlechten Arbeitsbedingungen, miesen Löhnen und der systematischen Sabotage von gewerkschaftlichen Bestrebungen. Oder wir ignorieren, dass in Deutschland ein großer Teil der Bürgergeldbeziehenden alleinerziehende Frauen sind, die aufgrund ihrer Lebensumstände in so prekären Arbeitsverhältnissen stecken, dass sie auf Sozialleistungen angewiesen sind. Diese Frauen brauchen keine Arbeitsanreize, sondern gesellschaftliche Solidarität, mehr Kita-Plätze und ein weniger frauenfeindliches Justizsystem. Wir ignorieren vollständig, dass Kinder und Jugendliche keine Selbstwirksamkeit und damit auch keinen Ehrgeiz entwickeln KÖNNEN, wenn sie von klein auf mit klassistischen Vorurteilen konfrontiert werden und ihnen immer wieder Steine in den Weg geworfen werden, weil Teilhabe in Kita und Schule so stark vom elterlichen Geldbeutel abhängt. Wir ignorieren völlig, dass viele Sozialhilfeempfangende vor allem durch Krankheit, Behinderung oder Fürsorgeverantwortung in der Situation sind, ihren Lebensunterhalt nicht allein bestreiten zu können. Wenn ich dann höre oder lese, wie Leute armen Menschen vorwerfen, sie würden sich nur nicht genug anstrengen oder sie müssten mal „aus ihrer Opferrolle herauskommen“, werde ich fuchsteufelswild.


Celsy Dehnert lachend bei der Arbeit  am Computer I Journalistin & Dozentin I Foto © Tassja Rother I myGiulia
Celsy Dehnert bei der Arbeit / © Tassja Rother

Viele unserer Leser*innen sind ebenfalls selbstständig. Und haben teilweise noch kleine, betreuungsintensive Kinder. Als Mentorin für selbstständige Frauen bekommst du sicher Einblicke in die täglichen Hürden. Was sind deiner Erfahrung nach die größten Hindernisse, die Mütter auf dem Weg der beruflichen Erfüllung zu überwinden haben?

Tatsächlich ist die größte Hürde für viele selbstständige Frauen, mit denen ich arbeite, dass ihre Selbstständigkeit innerhalb der Familie nicht genug Priorität genießt. Es fehlt an fest abgesprochenen Zeiten und entsprechend ungestörtem Raum, damit diese Frauen auch konzentriert arbeiten können. Manchmal liegt es daran, dass der Partner die Berufstätigkeit seiner Frau nicht ernst genug nimmt, sehr oft liegt es daran, dass diese Frauen sich nicht trauen, für sich selbst und den nötigen Freiraum einzustehen. Traditionelle Rollenaufteilungen in den Familien sowie gesellschaftliche Narrative, nach denen Carearbeit Frauenarbeit ist, machen es den Frauen schwer, ihr Recht durchzusetzen. Denn es ist natürlich schwer auszuhalten, wenn das Kind anfängt zu weinen und nicht mit Papa mitgehen will, wenn Mama die Bürotür hinter sich zumacht. Natürlich ist es schwer, sich abzugrenzen, wenn die Kinder immer wieder nach Mama fragen. Und natürlich ist es umso schwerer, wenn der Partner für fast jeden Handgriff nachfragen muss, wo er denn Sache XY findet. Aber meine Erfahrung ist eben auch: Wenn ich nicht irgendwann anfange, diese Grenzen zu ziehen und diese Transitionsprozesse zu forcieren, dann brenne ich daran aus, immer allen gleichzeitig gerecht werden zu wollen. Das führt im Grunde zum allergrößten Hindernis, das auch zu großen Teilen gesellschaftlich verschuldet ist: Die meisten der Frauen in meinem Mentoring glauben, sie müssten alles gleichzeitig haben und schaffen. Aber „You can have it all“ ist eine Lüge. Irgendwer oder irgendwas zieht immer den Kürzeren. Wenn ich permanent versuche, alles gleichzeitig zu haben oder zu schaffen und alle Bälle in der Luft zu halten, dann bin früher oder später ich selbst der Ball, der zu Boden fällt und an dem Druck der Erwartungen zerbricht. Mir einzugestehen, dass es oft gesünder ist, Dinge nacheinander zu machen und Prioritäten zu setzen, ist das wichtigste Learning meiner eigenen Selbstständigkeit und das, was ich meinen Mentees immer zuerst mitgebe.


„Die Erfüllung im Job zu suchen ist einer dieser neoliberalen Tricks, mit denen der Kapitalismus uns alle dazu verleitet, unser ganzes Leben dem Job unterzuordnen.”

Ist Erfüllung in Zusammenhang mit Beruf eigentlich ein zulässiges Wort deiner Meinung nach oder stellen wir damit zugleich eine Wertung auf: Familie ist nicht die alleinige Erfüllung, es muss schon ein Beruf oder eine Karriere für die Frauen auch drin sein?

Ich finde schon die Prämisse, dass Erfüllung zwangsläufig mit dem Beruf oder der Familie verknüpft sein muss, falsch. Ich finde es sowieso grundlegend falsch, davon auszugehen, dass ich meine Erfüllung ÜBERHAUPT in einem Job finde oder finden muss. Die Erfüllung im Job zu suchen ist einer dieser neoliberalen Tricks, mit denen der Kapitalismus uns alle dazu verleitet, unser ganzes Leben dem Job unterzuordnen. Natürlich ist es schön, einen Job zu haben, der Spaß macht. Selbstverständlich sollte sich niemand in einem Job quälen müssen, der unterfordert oder so furchtbar ist, dass man morgens vor Grauen nicht aus dem Bett kommt. Aber ganz ehrlich? Es haben Generationen von Menschen sehr gut damit gelebt, dass ihr Job vor allem Mittel zum Zweck war. Dass ehrenamtliche Strukturen zusammenbrechen, wir unsere eigenen Nachbar*innen kaum kennen und die meisten von uns sich völlig ausgebrannt jedes Jahr zum 1.1. schwören, uns endlich ein Hobby zu suchen, liegt daran, dass wir der Lüge erlegen sind, unser Job müsste uns Erfüllung bieten und wir deshalb alles andere unterordnen. Dabei ist Erfüllung genau das, was wir vor allem aus zwischenmenschlichen Beziehungen, aus sinnstiftenden Tätigkeiten und Müßiggang ziehen. Erfüllung mit Berufstätigkeit gleichzusetzen, ist zu leben, um zu arbeiten. Dabei sollten wir arbeiten, um leben zu können. Mehr noch: Wir sollten leben können. Punkt. Arbeit ist am Ende des Tages vor allem wirtschaftliche Erfordernis und sollte nicht alleiniger Lebensinhalt sein. Dass gerade die aktuelle Generation so erschöpft ist, liegt vor allem daran, dass wir als Gesellschaft unsere Prioritäten falsch setzen. Das heißt: Es ist okay, neben der Familie einen Ausgleich zu brauchen. Aber es ist höchst toxisch, das Narrativ zu verbreiten, der eigene Job sei Ausgleich zur Familie(narbeit). Wenn das so ist, machen wir etwas falsch. Denn der Ausgleich sollte etwas sein, das vor allem unserer eigenen Zufriedenheit dient.


„Die Mutterschaft hat mich für geschlechterbasierte Ungleichheit sensibilisiert, wenn es um die Frage nach der Verantwortlichkeit für Carearbeit geht.”


Jemand mit deinem Background und mit deinen Erlebnissen in der Kindheit, auch mit deinen schweren Startvoraussetzungen, die du immer wieder thematisierst: Wie schwer war es, dich dafür zu entscheiden, selber eine Familie zu gründen?

Gar nicht. Eine eigene Familie zu haben habe ich für mich nie in Frage gestellt. Wahrscheinlich half dabei, dass ich mit 18 die Liebe meines Lebens geheiratet habe.


Hat dich die Mutterschaft für bestimmte gesellschaftliche Themen besonders sensibilisiert?

Mutterschaft hat mich tatsächlich vor allem für geschlechterbasierte Ungleichheit sensibilisiert, wenn es um die Frage nach der Verantwortlichkeit für Carearbeit geht. Aber vor allem hat mich die Insta-Mom-Bubble dafür sensibilisiert, wie anders Elternschaft ist, wenn man eben nicht die hippe Hamburg-Elmshorn Mom mit zwei Autos und zwei Urlauben im Jahr ist. Mitzuerleben, wie unreflektiert Vereinbarkeit und Gleichberechtigung vor allem aus der Perspektive gut verdienender, finanziell abgesicherter Zwei-Eltern-Familien ohne Erkrankungen oder Behinderungen diskutiert wird, hat mich selbst dafür sensibilisiert, WIE wichtig es ist, über soziale Ungleichheit zu sprechen.

Celsy Dehnert auf Instagram: @celsy.dehnert


Ein weiteres Thema, das dich antreibt, sind Schieflagen im Gesundheitssystem, die sich durch wirtschaftliche Privilegien ergeben. Deine Beobachtung ist, dass eine Gesundheitsversorgung, die nach kapitalistischer Logik funktioniert, besonders diejenigen leiden lässt, die sich Medikamente und Behandlungen nicht einfach so locker privat kaufen können. Inwiefern trifft das Frauen? Sind da nicht ausnahmsweise alle Geschlechter gleichermaßen betroffen?

Fangen wir doch schon mit dem Beispiel Verhütung an: Seit Erfindung der Anti-Baby-Pille wird Verhütung vor allem als Frauensache gehandhabt. So befreiend das aus feministischer Sicht durchaus ist, ist es aber auch ein kostspieliges Unterfangen. In Deutschland übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für die Pille nämlich nur bis zum 18. Geburtstag vollständig und nach dem 22. Geburtstag nicht einmal mehr anteilig. Das heißt, ab dem 22. Geburtstag zahlen Frauen durchschnittlich 120 Euro für eine 6-Monatspackung der Verhütungspille. (Anm. d. Red.: Prinzipiell gilt man in Österreich ab dem 14. Geburtstag als einwilligungsfähig und kann sich die Pille auch ohne Einwilligung der Eltern verschreiben lassen. Von der österreichischen Gesundheitskasse gibt es bei der Verhütung keine finanzielle Unterstützung. Eine Monatspackung kostet im Schnitt 15 Euro. Bis Ende 2023 gibt es laut Gesundheitsministerium Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie zu Gratisverhütungsmitteln für alle.)


Besonders brisant wird das dann in Sachen Frauengesundheit: Wusstet ihr, dass die Medikamente bei Scheidenpilz oder Scheidenentzündungen in Deutschland privat bezahlt werden müssen? (Anm. d. Red.: In Österreich ist bei verschreibungspflichtigen Medikamenten für genannte Krankheit die Rezeptgebühr fällig, die derzeit bei 6,85 Euro liegt.) Wir reden von einer geschlechtsspezifischen, schmerzhaften Erkrankung, für die Frauen mindestens 15 Euro für das Medikament und weitere 20 bis 30 Euro für die nachsorgenden Milchsäurekuren in die Hand nehmen müssen. Wer das Geld nicht hat, muss leiden. Auch beim PCOS, einer multikomplexen, geschlechtsspezifischen Erkrankung, an der 5 bis 10 Prozent der Frauen in Deutschland leiden, ist es so, dass die Krankenkasse die Behandlungsoptionen nicht übernimmt. Es gibt zahlreiche Therapieansätze – jeden einzelnen müssen Frauen aus eigener Tasche bezahlen. Viele Krebsvorsorgeleistungen, vor allem Ultraschalluntersuchungen der Brust oder des Uterus, sind mittlerweile in Deutschland selbst zu zahlende Leistungen und werden nicht mehr von der Krankenkasse übernommen. Gleichzeitig sind Frauen aufgrund des Gender Pay Gaps und durch Fürsorgeverpflichtungen strukturell nachweislich finanziell benachteiligt. Es mag also durchaus sein, dass unser Gesundheitssystem geschlechterübergreifend klassistisch ist. Aber Frauen trifft diese Ungleichheit aufgrund der geschlechtsspezifischen Marginalisierung doppelt.



Auf Instagram sprichst und schreibst du immer wieder offen über deine überstandene Krebserkrankung. Warum war oder ist es dir wichtig, deine Geschichte öffentlich zu machen?


(Anm.: Celsy Dehnert war 27 Jahre alt, hatte gerade ihr zweites Kind bekommen, als bei ihr eine schwere Form von Lymphdrüsenkrebs festgestellt wurde. Ihr Sohn war zwei Jahre alt, die Tochter fünf Monate alt, als die chemotherapeutische Behandlung begann.)


Weil es 2018 kaum jemanden in meiner Situation – selbstständig mit zwei so kleinen Kindern – gab, der oder die ebenfalls Lymphdrüsenkrebs hatte und öffentlich darüber gesprochen hat. Ich hab jedenfalls niemanden gefunden, als ich wissen wollte, was auf mich zukommt. Schon von Teenagerjahren an schreibe ich unter dem Motto ins Internet: „Du bist niemals mit einer Situation oder einem Problem alleine. Es gibt immer mindestens eine zweite Person, der es so geht.“ Also habe ich selbst angefangen, die Dinge zu erzählen, die offenbar niemand vor mir erzählen wollte, damit andere nach mir etwas haben, woran sie sich festhalten können.


„Authentizität bedeutet vor allem, den eigenen Werten entsprechend zu handeln. Vor diesem Hintergrund ist es schwer einzuschätzen, wie authentisch andere sind.”


Gerade Instagram ist bei Frauen enorm beliebt, zahlreiche Frauen haben über die App ihr Business aufgebaut. Aber: Social Media-Stories und -Posts erwecken mitunter den Eindruck, dass alles total leicht zu erreichen ist: der tolle Urlaub, das schöne Haus, die braven Kindern, porentiefe Reinheit der Haut – weil wir immer nur die schönen Dinge und Sonnenseiten anderer Menschen zu sehen bekommen – oder sehen wollen? Was bedeutet Authentizität bei Social Media? Wollen deine Follower die anstrengende Wahrheit überhaupt präsentiert bekommen?


Die Frage ist ja, was man unter Authentizität versteht. Authentizität bedeutet ja eben nicht, ungefiltert immer alles mit allen zu teilen. Sondern Authentizität bedeutet vor allem, den eigenen Werten entsprechend zu handeln. Vor diesem Hintergrund ist es schwer einzuschätzen, wie authentisch andere sind. Ich kenne die Werte von Menschen, mit denen ich keinen oder nur oberflächlichen Kontakt habe, nicht. Da kann ich nur von mir selbst ausgehen. Es kann durchaus authentisch sein, die Schattenseiten des Lebens für sich zu behalten, wenn man großen Wert auf Privatheit legt und auch sonst nur wenige Details aus dem Privatleben teilt. Unfälle und Erkrankungen der Kinder quasi live zu streamen, während man geheim hält, wie sehr die eigene Ehe am seidenen Faden hängt, empfände ich hingegen als unauthentisch. Es ist schon nachvollziehbar, dass die meisten Menschen Instagram nutzen wie sie bislang Printmagazine gelesen haben – sie wollen unterhalten und inspiriert werden, während sie ihrem Alltag ein wenig entfliehen. Gleichzeitig ist jede Community jeder Content Creatorin aber eben auch ein bisschen anders. Meine Community zum Beispiel folgt mir eben wegen genau jener unbequemen Wahrheiten, mit denen ich sie regelmäßig konfrontiere. Sie wollen bei mir lernen, ihren Horizont erweitern, mal genauer hinschauen. Und sind gleichzeitig aber auch dankbar, wenn es dann mal zwei, drei Tage vor allem Kaffeebilder und Fanfiction-Content gibt. Weil wir alle mal eine Pause vom echten Leben brauchen.


Liebe Celsy, danke für das Interview! Wir wünschen dir alles Gute, vor allem viel Gesundheit und einen Batzen Energie für deine Projekte!

 

Im Interview


Celsy Dehnert mit Kaffee bei der Arbeit I Journalistin und Dozentin I Instagram I soziale Gerechtigkeit I Foto Tassja Rother I im Interview mit myGiulia
© Tassja Rother

Celsy Dehnert arbeitet seit 2016 als freie Journalistin, Texterin und Dozentin. Sie trinkt unfassbar gern Kaffee, hat zwei Kinder, einen Hund, ein Haus und einen Mann. Zu fünft leben sie mitten in der niedersächsischen Provinz – glücklicherweise genau dort, wo man noch hervorragendes Internet hat.
















 

Unsere Autorin


Foto von Pamela Rußmann I Chefredakteurin und Fotografin I myGiulia

Pamela Rußmann ist Chefredakteurin bei myGiulia. Sie fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“ festgehalten.




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