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Mama, lass mich los!

TEXT: SHANDIZ AHI


In den ersten Jahren der Elternschaft dreht sich alles um die Kinder. Die wollen aber irgendwann nicht mehr so viel Nähe. Die sagenumwobene Zauberformel jeder gesunden Eltern-Kind-Beziehung heißt: Loslassen! Wie gelingt nun der Spagat zwischen (Über-)Behüten und Loslassen?


Kinder im Park I Kinderschuhe I Kindheit und Erziehung I myGiulia
© Aedrian

Die gute Nachricht: Mit dieser Frage bist du nicht allein. Die zweite gute Nachricht: Loslassen geht. Zwar nicht von heute auf morgen, sondern vielmehr als Resultat eines langwierigen Prozesses voller Selbstreflexion, erprobtem Wissen und Vertrauen. Darin, dass alles gut gehen wird. Selbst, wenn man’s vorher nicht weiß. Denn nur so wächst man am Ende auch wieder zusammen. Unsere Autorin Shandiz Ahi, Mutter von drei Kindern, ist gerade da, was viele Trennungs- oder – je nach Blickwinkel – auch Wachstumsschmerzen nennen.



Akzeptier das einfach!


Der 6-jährige Spross erklärt mir neulich die Welt und gibt mir geradezu pathetisch zu verstehen, dass ich keinen Style hätte, die Zeiten sich geändert hätten, Geschmäcker verschieden seien und ich das einfach akzeptieren solle. Dabei war ich so stolz auf das perfekt zusammengestellte Set, mit dem sie in der neuen Schule punkten würde. Stolz war ich letztlich aber darüber, wie klar sie ihre Wünsche benennen kann. Im beinahe gleichen Atemzug eröffnet die 15-Jährige, dass sie heute Abend ausgehen und anschließend bei ihrer Freundin schlafen werde. Meine Gedanken und Sorgen über die bevorstehenden Tests, Schularbeiten und Verantwortung lesend, holt sie weiter aus: „Ich bin jetzt 15 Jahre alt, will einfach auch Spaß haben, oberflächlich sein und Fehler machen dürfen. Wer weiß, ob ich das später jemals wieder kann?“ Und um mich zu besänftigen, wirft sie noch nach: „Ich habe den gesamten Mathestoff inhaliert. Ich kann alles! Ich rufe dich später an oder schreibe dir noch. Hab dich lieb, Mama!“ Und Tschüss. Schon ist sie aus der Tür.


Alles richtig gemacht!?


Ein wenig ratlos blickte ich um mich. Hach, zum Glück ist der 12-Jährige noch da – im doppelten Sinne. Und geradezu euphorisch frage ich ihn, ob er nach der Schule mit mir und seiner kleinen Schwester ins Theater gehen will. Liebevoll, aber bestimmt speist auch er mich mit den Worten „Ich bin schon mit Freunden verabredet, sorry!“ ab, während er die Tür vor meiner Nase schließt. Ich steh also wieder mal da, allein, schweißgebadet, völlig entnervt, und frage mich, was ich falsch gemacht habe. Der dänische Familientherapeut, Ratgeberautor und vielleicht größte Impulsgeber für zeitgemäße Kindererziehung Jesper Juul würde mir hier an dieser Stelle (würde er noch leben) wohl entgegnen: „Nichts. Alles richtig gemacht – Ihre Kinder sind selbstbestimmt!“ Tja, mag sein. Aber je selbstbestimmter sie sind, desto mehr muss ich mich darin üben, loszulassen. Und dabei all meine Glaubenssätze, Theorien und Regeln bei der Kindererziehung über Bord werfen. Er war es auch, der gesagt hat, dass es nicht pauschal DIE eine richtige Art der Kindererziehung für alle gibt. Höchstens so etwas wie den Umkehrschluss: dass wir vieles richtig gemacht haben, wenn uns unsere Kinder nicht mehr brauchen.


Jesper Juul Portrait-Foto I Familientherapeut I Kinder, Eltern und Erziehung I Foto von Anja Kling I myGiulia
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul, Autor zum Thema Kinder und familiäre Beziehungen (1948 - 2019) © Anja Kring

Wer Kinder hat, ganz egal welchen Alters, wird jetzt kopfnickend zustimmen: Niemand hat uns gesagt, wie hart dieser Trip dahin wird. Kein Beipackzettel, keine Anleitung, geschweige denn eine Vorschau, was uns Eltern ab dem Tag der Empfängnis bis zum Auszug der Sprösslinge (und vermutlich auch noch danach) eigentlich blüht. Oder wollten wir zwischen den pastellfarbenen Babyshower-Windeltürmen und Heliumluftballons den subtilen Unterton und verhaltenen Blick geeichter Elternpaare nicht vernehmen, die uns zum „Babyglück“ gleichermaßen gratulierten wie bemitleideten. Neben all der nicht enden wollenden chronischen Schlaflosigkeit, dem schweißtreibenden Herumtragen, den Koliken, den Tobsuchtsanfällen, den leidigen Kindergarteneingewöhnungen und Einschulungen und der emotionalen Achterbahn gab’s ja da noch was: die Kinder zu verantwortungsvollen, empathischen und selbstständigen Individuen zu „erziehen“.


It’s time to face reality


„Glück“ und Kindererziehung gehen nicht unbedingt immer Hand in Hand. Selbstbestimmt oder nicht. Oder vermutlich gerade deswegen nicht. Denn das Glück der Kinder ist nicht immer kompatibel mit dem Glück der Eltern. „Beziehung statt Erziehung“ lautet die vielzitierte Zauberformel von Jesper Juul: „In der Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind ist der Erwachsene für die Beziehungsqualität immer hundertprozentig verantwortlich!“, schreibt er. Für uns Eltern ist das oft eine Zerreißprobe: Denn der Grat zwischen Vertrauen und Kontrolle, zwischen Sorge und Fürsorge, zwischen Initiative und Zurückhaltung ist sehr schmal.


Die Zeit des Wandels – Kindererziehung in der Pubertät


Dabei ist gerade die Pubertät eine einschneidende und entscheidende Phase des Umbruchs – für die Teenies gleichermaßen wie für ihre Eltern. Denn das ist jene Phase, in der Jugendliche Autonomie wollen, aber auch Sicherheit brauchen. Die Herausforderung für uns Eltern besteht darin, unsere Kinder loszulassen und ihnen gleichzeitig die notwendige Unterstützung und Geborgenheit zu bieten. Nach dem berühmten „Wurzeln-Geben und Flügel-Verleihen“-Prinzip. Das wusste auch Jesper Juul, der seine langjährige Therapiearbeit und die damit gewonnene Perspektive auf „Kindererziehung“ zum Glück in einer Reihe von Bestsellerratgebern für uns Eltern festhielt. Der Prozess des Loslassens – nicht erst in der Pubertät – ist für Juul unerlässlich, um „das selbstbestimmte Kind“, so auch der Titel eines seiner Bücher, zu selbstständigen Erwachsenen gedeihen zu lassen. Und das ohne dabei die Kontrolle und Verantwortung abzugeben; sondern den Kindern dafür den Raum zu geben, eigene Entscheidungen zu treffen und aus ihren Fehlern zu lernen. Gerade das Vertrauen der Erwachsenen in die Stärken und in die Handlungsfähigkeit ihrer Kinder ermöglicht ihnen, sich zu eigenständigen Erwachsenen zu entwickeln.


„Loszulassen gelingt, wenn wir die eigenen Ängste managen und dafür Verantwortung übernehmen: alte Muster loszulassen und Neues zuzulassen. Auch die Idee, dass man Herzensmenschen auch mal enttäuschen darf.” – Sandra Teml-Wall


Kommunikation als Schlüssel


Ein wesentlicher Aspekt des Loslassens ist der Dialog. Eltern sollten aktiv zuhören, Gefühle und Bedürfnisse ihrer Kinder ernst nehmen und eine unterstützende Umgebung schaffen, die sie dazu ermutigt, Vertrauen zu haben, sich mitzuteilen und Selbst- bzw. Mitbestimmung zu gewähren. Dieser Balanceakt erfordert viel Geduld, Vertrauen, Kommunikation und viel Empathie.


Jugendliche auf einem Truck mit Softdrinks im Winter I YOLO I Teenager und Pubertät I Eltern und Erziehung I myGiulia
© Jakob Rosen

„Kinder sind gekommen, um zu gehen“, meint Sandra Teml-Wall, Eltern-Coach und Gründerin der Beratungspraxis „Wertschätzungszone“. „Loszulassen gelingt, wenn wir die eigenen Ängste managen und dafür Verantwortung übernehmen. Festhalten ist oft der Versuch, sich nicht zu fürchten. Meine Kernbotschaft: Wir müssen bei uns selbst beginnen. Keiner wird uns das abnehmen, es bleibt an uns hängen. Und gleichzeitig ist das auch die gute Nachricht: Wir haben es in der Hand, wie die Sache ausgeht. Jesper Juul war in der Hinsicht ein Vorreiter: Seine Gelassenheit, sein Blick auf das Kind und die Beziehung auf Augenhöhe sind Pionierarbeit. Kinder gehören nicht uns, sie gehören sich selbst und einer Zukunft, die wir nicht mehr betreten können. Mein Appell: Ich wünsche den Kindern, dass sie Kinder und frei sein dürfen und dass sie Eltern haben, die sich selbst kontrollieren, und nicht ihre Kinder!“ Als Elterncoach und Paartherapeutin begleitet Teml-Wall im Rahmen des von Jesper Juul gegründeten „familylab“ und ihrer eigenen Elternpraxis „Wertschätzungszone“ zahlreiche Familien durch stürmische Zeiten. „In meiner Arbeit konzentrieren wir uns darauf, alte Muster loszulassen und Neues zuzulassen. Auch die Idee, dass man Herzensmenschen auch mal enttäuschen darf. Das gilt vor allem auch für erwachsene Kinder, die sich im Sinne der ,Ent-Elterung’ von ihren Eltern lösen wollen. Eltern können sehr wohl mit Enttäuschungen umgehen, wenn diese nicht als Zurückweisung der eigenen Person gesehen, sondern lediglich als Nein zum Wunsch gesehen wird.“


Wachstum als Chance


Auch wenn die Pubertät oft die gesamte Familie auf den Kopf stellt und Kind und Eltern an ihre Grenzen bringt, eröffnet sie gleichzeitig aber auch Chancen für persönliches Wachstum und eine tiefere Eltern-Kind-Beziehung. Durch einen sensiblen Umgang können Eltern dazu beitragen, dass ihre Kinder gestärkt und selbstbewusst in ihre Zukunft gehen. Dabei sind wir alle stellenweise überfordert und ratlos. Umso wichtiger ist dabei die eigene Selbstfürsorge. Denn seien wir uns ehrlich: Die neu gewonnenen Freiheiten, die wir unseren Kindern gewähren, können wir uns getrost auch selbst zugestehen. Um es mit Jesper Juuls Worten zu sagen. Eltern, entspannt euch! Glückliche Kinder brauchen vor allem eines: glückliche Eltern. „Wenn die Erwachsenen nicht genug Zeit für sich selbst und für sich als Paar haben, dann widmen sie den Kindern unter Garantie zu viel Aufmerksamkeit. Kein Kind will Aufmerksamkeit. Es braucht Beziehung und will am Leben seiner Eltern teilhaben", schreibt Jesper Juul. „Der äußere Rahmen ist nicht so wichtig, solange man sich für die Menschen wertvoll fühlt, mit denen man zusammenlebt. Dann kann man streiten, lachen und weinen. Dann kann jeder er selbst sein!“ Das heißt mitunter auch oft liebevoll NEIN zu sagen. Sandra Teml-Wall führt noch weiter aus: „Als Eltern möchten wir gerne immer JA sagen! Der Preis für Harmonie ist oft auch Selbstverrat. Die hohe Kunst ist, die Balance zu finden zwischen Autonomie und Verbindung. Die Kinder mitgestalten zu lassen und sie aus der Abhängigkeit zu entlassen, ist essentiell. Gut behütet bedeutet nicht automatisch gut fürs Kind. Ihnen alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen bereitet sie nicht auf die Welt da draußen vor!“



„Das Kind macht es selbst und nicht alleine.“ – Jesper Juul


Die Ängste, immer diese Ängste


Warum fällt es so vielen Eltern schwer, sich zurückzunehmen? „Sobald wir ein Kind gebären, werden wir mit unseren Ängsten konfrontiert", erzählt die Familientherapeutin. „In den Prozessen des Loslassens werden Eltern dabei auf eine noch härtere Probe gestellt. Jesper Juul sagt nicht umsonst: „Das Kind macht es selbst und nicht alleine.“ Eltern, die nicht loslassen können, haben sich hier oft auch nicht den eigenen Ängsten gestellt. Spätestens wenn wir Kinder haben, müssen wir das tun. Sonst hängen wir unsere Ängste unseren Kindern um. Und Menschen, die sich selbst nicht kontrollieren können, kontrollieren andere. Es geht darum, unsere Grenzen aus Liebe zu weiten und über uns hinauszuwachsen. Das ist Wachsen! Dabei manage ich meine Angst und gehe ins Vertrauen. Da geht es auch stark um meine eigene Vertrauenskultur. Inwieweit triggert das meine Biografie und wie sehr kann ich überhaupt vertrauen? Vertrauen und Loslassen hängen stark zusammen“, so Teml-Wall. „Ich muss loslassen, um eine Beziehung haben zu können. Damit unsere Kinder aus freien Stücken wieder zu uns kommen – bis ins Erwachsenenalter!“


Glückliche, hüpfende Kinder bei Sonnenuntergang I Kindheit und Pubertät I Eltern und Erziehung I Foto von Alex Guillaume I myGiulia
© Alex Guillaume

Für viele Eltern ist der Trennungsschmerz von ihren Kindern extrem groß und erscheint unüberwindbar, wenn das Empty-Nest-Syndrom sich einstellt. Nicht selten dreht sich das Leben nur um die Kinder und es bleibt jahrelang wenig Zeit für ein Leben außerhalb der Elternrolle. Eine Tatsache, die sich spätestens beim Auszug der Kinder bemerkbar macht und Eltern sich dann ertappen, dass sie sich viel zu lange nur über ihre Kinder definiert haben und sich erst wieder neu finden müssen.


Aus ganzem Herzen Ja sagen


Also liebe Eltern, seid auch gut und gnädig zu euch selbst. Wenn bei all den Mantras und klugen Weisheiten das Loslassen nicht immer flutscht, so lasst euch von einer mittlerweile „entspannten" Dreifach-Mama sagen: Wir können nicht alles wissen, dürfen das auch offen ansprechen und um Hilfe bitten – nicht nur von unserem Umfeld, sondern vor allem auch von unseren Kindern. Wenn meine älteste Tochter wieder einmal länger unterwegs ist, als mir lieb ist, schickt sie mir ihren Standort und in regelmäßigen Abständen eine „Ich-lebe-noch“-SMS. Damit hält sie im bildlichen Sinne meine Hand und hilft mir dabei, ihre loszulassen. Und ich kann ihr aus ganzem Herzen JA sagen, dabei meine Integrität wahren und meine Ängste kontrollieren. Das Schönste daran: Damit wachsen wir, trotz aller Gegensätze und Entfernung, noch näher zusammen.



 


Buchtipps für Eltern


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Im Interview


Sandra Teml-Wall im Interview mit myGiulia I Familienberaterin, Eltern- und Beziehungscoach I Foto von Theresa Pewal I myGiulia
© Theresa Pewal

Sandra Teml-Wall ist Familienberaterin, Eltern- und Beziehungscoach und Dipl. Lebensberaterin in Wien. Die Mutter von drei erwachsenen Kindern und zwei Bonuskindern begleitet Menschen beim Miteinander-Wachsen, bei Konfliktlösungen und bei der Suche nach Antworten für ihren gemeinsamen Weg als Familie. Besonders geprägt hat ihre berufliche Entwicklung ab 2008 die Zusammenarbeit mit Jesper Juul. Sandra Teml-Walls größte Leidenschaft ist es, menschliche Potenzialentfaltung in und durch Beziehungen zu ermöglichen.



 

Unsere Autorin


Shandiz Ahi I Journalistin I Autorin bei myGiulia I Foto von Elsa Okazaki I myGiulia
© Elsa Okazaki

Shandiz Ahi, 1980 in Teheran geboren, 1985 nach Wien emigriert, studierte Mediendesign und Journalismus. Sie hat u.a. in New York gelebt und arbeitet seit 20 Jahren als Journalistin für alle namhaften Magazine Österreichs. Sie hat nicht nur das richtige Gespür für die schönen Dinge des Lebens, Shandiz liebt es auch, Geschichten von Menschen zu erzählen, die unter die Haut gehen und inspirieren.






 


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