TEXT: PAMELA RUSSMANN
Letztens lag ich also fiebrig und mit Nebenhöhlen so dicht, dass nicht mal eine Flutlichtanlage sich durch das Dunkel dieser Höhlen einen Weg hätte bahnen können, in einem fremden Bett in einem entzückenden, aber schwer zu heizenden Pariser Studioapartment, und nein, zu früh gefreut, das ist nicht das Setting einer romantischen Begebenheit.
Ich habe meine Tochter besucht in der schönsten Stadt Europas, aber auch dort ist es im Winter verrotzt und verhustet wie überall, nein, das elegante Paris macht da keine Ausnahme. Und so begab es sich also, dass ich in der gemieteten kleinen Urlaubswohnung vor mich hin schwitzte, alleine, mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid wie eine Gewichtsdecke über mir ausgebreitet.
In solchen Situationen, in der Fremde, weit weg von Zuhause, sehnt man sich nach etwas Vertrautem, und mir fiel nichts Besseres ein, als den ORF2-Livestream einzuschalten, um im ewig gleichen Nachmittagsprogramm Trost zu suchen. Ich war weggedöst und wurde in die Gegenwart geweckt von einer fröhlichen Aura. Eine glockenhelle Stimme bahnte sich durch den Schleier der Erkältung, die so positiv und optimistisch war, dass mich sofort die Aggression packte. Es gibt ja nichts Anstrengenderes als offensiv gut gelaunte, gut aussehende Menschen, wenn man selber gerade von einer umgeworfenen Restmülltonne nicht zu unterscheiden ist, optisch und energetisch.
Und dann sagte die Gute etwas, was mich aufhorchen ließ…
Es saß also die ehemalige Weltcup-Skirennläuferin Lizz Görgl im ORF-Studio und plauderte engelsgleich (Leute, ich hatte Fieber!) von ihrem neuen Leben, von all ihren Unternehmungen und Neuausrichtungen, ihrer Musikkarriere, ihrem mentalen Training, ihrer Coachingausbildung, und ich weiß nicht mehr, was noch alles. Und dann sagte die Gute etwas, was mich aufhorchen ließ. Sie erzählte von Hindernissen, die man sich selbst manchmal baut, wenn man sich zu viel vornimmt oder das Leben einem etwas hinschmeißt, mit dem man nicht gerechnet hat. Und sie nannte diese Situationen, sprich alles, was uns im Leben unterkommt: Lerngeschenke.
The great Weihnachtsverzweiflung
So kurz vor Weihnachten und Silvester drehen ja bekanntlich alle ein wenig durch. Nennen wir es gern selektive Wahrnehmung, aber heuer kommt es mir so vor, als wäre die Erschöpfung bei besonders vielen Menschen die alles bestimmende Verfassung. Egal, ob ich meine Social Media-Apps öffne oder mit Freund*innen rede, es kracht an allen Ecken und Enden. „Ich bin so müde von diesem Jahr, von allen Care-Aufgaben, allen persönlichen und gesellschaftlichen Kämpfen“, schreibt etwa die Autorin Susanne Mierau in einer Instagram-Story. Celsy Dehnert postete ebenda eine Abrechnung mit der so genannten stillsten Zeit des Jahres und beschreibt ihre Jahresendmüdigkeit als den einen „Monat im Jahr, in dem wir uns kollektiv trauen zuzugeben, dass wir mit dem Tempo dieser Welt schon lange nicht mehr mithalten können und dass wir alle einfach fucking müde sind“. Die Coachin Valerie Junger haut in dieselbe Kerbe: „In unserer schnelllebigen und oft anspruchsvollen Welt fühlen wir uns manchmal wie in einem Hamsterrad gefangen, ständig beschäftigt und unter Druck. Wir denken, dass wir keine Zeit für eine Pause haben“, schreibt sie, „besonders wenn unsere To-do-Listen überquellen und Verpflichtungen uns umgeben.“
Uff.
Ja, wir alle haben volle Leben, gerade die berufstätigen Mamas unter uns wissen das, 365 Tage im Jahr wird zeitgemanaget, was das Zeug hält, besagte To-do-Listen werden akkurat abgearbeitet, und irgendwie ist der Fokus immer auf dem, was man (noch) nicht geschafft hat. Wir scheinen in einer Art Selbstoptimierungsirrtum verstrickt zu sein. Die Angst, nicht alles zu schaffen, was man angeblich zu erledigen hat, das ist die Angst, die uns nachts wach hält. Der Produktivitätsexperte und Buchautor Oliver Burkemann hat kürzlich im Podcast vom SRF Literaturclub, wo man sich ebenfalls der Jahresendthematik widmete, ein Paradoxon erklärt: Menschen, die effizient arbeiten, bekämen mehr und mehr Arbeit aufgehalst. Fertig würde man aber mit der Arbeit nie, weil es so etwas wie „das Ende der Arbeit“ nicht gäbe. Man könne demnach also nie am Ende der To-do-Liste ankommen, weil diese unendlich sei. „Das Leben ist endlich“, resümiert er, „und etwas, das endlich ist, kann man nicht mit unendlich viel Kram vollstopfen.“
BÄÄÄMMM!
Ich hätte in Physik besser aufpassen sollen, dann wäre ich wohl selber schon auf diese naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit gekommen. Es sei meinem Physikprofessor im Nachhinein sein Unvermögen verziehen. (Kleiner Scherz.)
Hell sie auf, die Stimmung!
Es geht also, wieder einmal!, ums Loslassen. Nein, es ist nicht lebensnotwendig, noch schnell vor Weihnachten zum Frisör zu gehen, das Kellerabteil zu entmüllen, Kekse zu backen, das Konzept für die eine life changing Businessidee auszuarbeiten, den einen Workshop zu besuchen, den man empfohlen bekommen hat, rigoros alle Weihnachtsfeiern abzuklappern, die Fenster zu putzen, damit man den Schnee schön fallen sieht, Klartext zu reden mit der einen Person, die einen das ganze Jahr genervt hat, noch schnell sein Potenzial auszuschöpfen, alle Belege zu sortieren, Versicherungspolizzen zu evaluieren, alle Leute zu treffen, die man zwischen Jänner und November auf „später im Jahr“ vertröstet hatte. Nein. Ist. Es. Nicht.
Lerngeschenke eben.
Auf den letzten Metern des Jahres wäre es höchstwahrscheinlich zufriedenstellender, sich an all dem zu erfreuen, was man alles geschafft hat bereits. Das wertzuschätzen, was sich alles glücklicherweise Gutes ergeben hat in den letzten Monaten. Das Schöne sehen. Wärmende Erinnerungen aktiv herholen. Die Fotoordner durchsehen am Handy und die verwackelten Bilder voller Lachen und Lebensfreude umarmen. „Das Geschirr einfach mal unabgewaschen stehen lassen und die Dinge tun, die wirklich wichtig sind“, sagt Christine.
Jetzt müsste ich halt nur noch herausfinden, was wirklich wichtig ist. Aber das ist eine andere Geschichte.
Unsere Autorin
Pamela Rußmann ist Chefredakteurin bei myGiulia. Sie fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“