von Katharina Sabetzer
Vom wärmenden Zentrum für die Familie über den unsichtbaren Ort der Effizienz bis hin zum Lebensraum für alle.
„Erinnerst du dich daran, wie du das erste Mal in der eigenen Wohnung, es war nicht mehr als ein Zimmer, etwas kochen wolltest und dir erst mittendrin aufgefallen ist, dass du noch Salz würdest kaufen müssen?“, fragt Teresa Präauer gleich zum Auftakt ihres 2023 erschienenen Romans „Kochen im falschen Jahrhundert“ und hält uns Leser*innen auf den folgenden Seiten einen durchaus entlarvenden Spiegel vor.
Die im Buch beschriebene Essenseinladung namenloser, weil so austauschbarer Protagonist*innen zerfällt im Laufe des Abends, dabei hatte sich die Gastgeberin so sehr bemüht, alles zusammenzuhalten. Denn das Vorbild des Feuilleton-berühmten Kochs, das im Bestseller-Kochbuch gezeigt wird, erfüllt die Gastgeberin mit Sehnsucht, „setzte sie unter Druck, gewürzt mit einer Kräutermischung aus Neid und Bewunderung. Er schien zahlreiche Freunde zu haben, mit denen er viel lachen konnte. Das Kochen rückte er in den Mittelpunkt, und doch gelang es wie nebenbei.“
Die Essenseinladung mit einem raffiniert-einfachen Gericht, das es der Gastgeberin erlaubt, am Gespräch mit ihren Gästen teilzunehmen, das Kochen in den Hintergrund verschwinden zu lassen, als Königsklasse des sozialen Aufstiegs?
Was Teresa Präauer schonungslos in seiner Oberflächlichkeit beschreibt, ist das Instagram-taugliche Ziel der Post-Pandemie-Gesellschaft: Die Rückkehr zum gesellschaftlichen Leben. Die (Wieder-) Öffnung des eigenen Zuhauses. Und mittendrin die Küche.
Jede Party beginnt und endet in der Küche
Die erste Küche in der ersten eigenen Wohnung ist unpolitisch. Die Maßstäbe der Sauberkeit, die Aufteilung der vorhandenen Vorräte, der Tagesrhythmus – all das ist geschlechterunabhängig. Das bediente Stereotyp der jungen Erwachsenen, Studierenden, Berufseinsteiger*innen. Alles zählt mehr, als darauf zu achten, ob man Salz zuhause hat.
Schlussendlich findet man sich zu später Stunde immer in der Küche ein. Egal welcher Herkunft, egal mit welchem Beziehungsstatus: Die gruppendynamische Faszination, die Partys unter Studierenden wie Berufstätigen stets begleitet, ist die ungeschriebene Tatsache, dass jede Gesellschaft jeder Größe irgendwann in der Küche landet. Ist es der Instinkt früherer Generationen, als man sich um den Ofen in der Küche – oftmals die einzige Licht- und Wärmequelle im Haus – sammelte? Zieht es uns magisch in die Nähe der Essens- und Getränkequelle? Oder liegt es an den Gastgeber*innen, die – anders als bei Präauer – die eigene Küche kaum verlassen konnten, um den Fluss jener Nahrungsquellen nicht versiegen zu lassen?
Nahrungsaufnahme ist ein Politikum: was wir essen, wann wir essen, wo wir essen, wie viel Zeit wir uns zum Essen nehmen und welche Lebensmittel wir uns leisten können.
Essen ist existenziell für uns. Essen hält uns am Leben, es macht uns Freude, es ist kommunikativ, verführerisch, genussreich. Aber die Nahrungsaufnahme ist auch ein Politikum: was wir essen, wann wir essen, wo wir essen, wie viel Zeit wir uns zum Essen nehmen. Welche und wie viele Lebensmittel wir uns leisten können.
Die Krisen der vergangenen Jahre – die Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine, die Inflation sowie die Klimaerwärmung – prägen unser Ess- und Kochverhalten. Aber auch unabhängig von Krisen landen wir irgendwann in der Küche. Allein zuständig für die tägliche Nahrungszubereitung. Während der andere als „Ernährer“ bezeichnet wird.
„Im Zuge des häuslichen Gebarens griff man noch immer auf ein Reservoir an alten Rollenbildern zurück. Dabei hatten sowohl das Horoskop als auch die historische Epoche der Gastgeberin für ihr Leben doch Freiheit versprochen, resultierend aus einer Befreiung von einschränkenden Mustern traditionellen Verhaltens“, schreibt Präauer und wird in der Realität von zahlreichen Studien bestätigt, die belegen, dass in manchen heterosexuellen Paarbeziehungen die Ungleichheiten in der Care-Arbeit gar nicht einmal mehr wahrgenommen werden.
Die im Mai 2023 in Deutschland veröffentlichte „Vermächtnis-Studie“ zeigt nämlich nicht nur einen gesunkenen Kinderwunsch in der deutschen Bevölkerung auf, sondern auch unterschiedliche Sichtweisen von Männern und Frauen auf entscheidende Aspekte der Care-Arbeit: So geben etwa mehr als 50 Prozent der Frauen an, dass ihrer Meinung nach mehrheitlich Frauen an das Essen und den Schlaf der Kinder denken und diese planen, als dass es beide Partner ausgewogen machen würden. Die befragten Männer jedoch sind zu über 70 Prozent davon überzeugt, dass sich beide Elternteile darum kümmern würden.
Form follows function
Wie sind wir hier gelandet? Weit entfernt von meist zweckmäßig verwendeten Kohleherden, mit denen die Bauernküchen des 19. Jahrhunderts erstmals bestückt wurden, meist der einzige Ort im Haus, der aufgrund des Herds gut beheizt war.¹
In der Welt nach dem Ersten Weltkrieg verändert sich die Wohnsituation vieler Menschen, vor allem in den Städten. Effizienz ist der maßgebliche Faktor des Designs, und in diesem Sinne entwickelte auch Margarete Schütte-Lihotzky in den 1920er-Jahren im Zuge des sozialen Wohnbaus die erste Einbauküche, die später zu Berühmtheit gelangte „Frankfurter Küche“. Schütte-Lihotzky entwarf eine Küche, die Frauen in erster Linie Zeit ersparen und Freizeit schenken sollte, indem sich die Bewegungsabläufe in der Küche aufgrund ihres Designs verringerten.
Doch die mit dieser Planung einhergehende räumliche Abtrennung der Küche vom Essbereich brachte Lihotzky später auch viel Kritik von Feministinnen ein, die ihr vorwarfen, die Frauen (und somit auch die geleistete Arbeit) aus der Sichtbarkeit zu verbannen.
Mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen in den 1960er- und 1970er-Jahren veränderte sich auch das Design der Küchen, was mit einer schrittweisen Öffnung der Kochbereiche einherging. Essnischen in der Küche, Durchreichen ins Esszimmer bis hin zu den ersten Entwürfen einer Zubereitungsinsel, wie etwa jene des Grafikdesigners Otl Aicher, der auf diversen Reisen um die Welt für den Küchenhersteller bulthauperkannte: Kochen ist ein kommunikativer Akt.
Je berufstätiger und eigenständiger Frauen wurden und werden, desto weniger wurde und wird gekocht.
Gesellschaftliche Veränderungen der (westlichen) Welt sowie technischer Fortschritt zeigen sich im Laufe der Jahrzehnte im Design der Küchen. Je leiser die Küchengeräte wurden, desto offener gestalteten sich die Küchen. Krisenbegleitende „Cocooning“-Tendenzen, die den Rückzug in die eigenen vier Wände förderten (etwa auch schon 2001 nach dem Terroranschlag in New York auf das World Trade Center), rissen jedoch die Mauern zum separaten Kochbereich nieder.
Also ist die Küche immer noch ein Ort der Gemeinschaft? Aber gehen damit auch die stereotypen Geschlechterrollen verloren?
Warum überhaupt noch kochen?
Die Geschichte unserer Nahrungszubereitung ist eng mit der Geschichte der Frauen verbunden. Und je berufstätiger und eigenständiger Frauen wurden und werden, desto weniger wurde und wird gekocht. „Who needs a kitchen when you live above a restaurant?“, fragte bereits ein Artikel in der New York Times aus dem Jahr 1986. „I use my oven for storage”, erzählte auch Carrie Bradshaw in der in den USA im Jahr 2000 ausgestrahlten 3. Staffel von „Sex and the City“. Warum also kochen, wenn es an jedem Häusereck zahllose Gerichte aus verschiedenen Ländern jederzeit verfügbar gibt?
Laut einer 2018 in Großbritannien durchgeführten Studie waren die Küchen in den 1960er-Jahren so groß wie seither niemals wieder und sind bis zum Zeitpunkt der Datenerhebung in ihrer Größe um 13 Prozent gesunken.
Auch der erste Wiener Wohnungsmarktbericht aus dem Jahr 2023 geht davon aus, dass der Anteil der Einpersonenhaushalte bis 2050 auf 41,5 Prozent steigen wird, was sich im Wohnungsbau und der sinkenden Größe der Wohnungsflächen niederschlagen wird.
Im Jahr 2018 fand man jedoch auch noch Prognosen, dass zukünftiger Wohnraum fast gänzlich ohne Küchen auskommen würde und man sich auf die aufstrebenden Lieferdienste verlassen würde.
Diese Rechnung wurde jedoch vor Corona und den Lockdowns gemacht. Und auch jetzt, gute fünf Jahre und eine Pandemie später, hat auch noch kaum ein Lieferdienst ein profitables Modell für sein Angebot gefunden. Zwar konnten etablierte Essenszusteller wie Lieferando oder HelloFresh während der Pandemie hohe Zuwächse verzeichnen, diese waren jedoch – nach Lockerung der Pandemie-Beschränkungen – nicht nachhaltig.
Wer kocht?
Also binden wir uns weiterhin die Schürzen um und wühlen uns durch Ernährungstrends und nachhaltige Lebensmittel. Aber mit moderner Entscheidungsfreiheit.
So trägt Präauers Gastgeberin im Buch eine „weinrot-sandfarben-gestreifte Leinenschürze aus Kopenhagen, Made in India. Tomorrow Matters, stand auf der Waschanleitung, Organic Cotton. Das Kleidungsstück würde, von der Gastgeberin getragen, eine ganz neue Bedeutung haben. Sie wäre weder die duldsam gebundene Kittelschürze der Generation ihrer Großmütter noch die wütend verweigerte Kochschürze der Generation ihrer Mütter.“
Wir haben die Einbauküchen hinter uns gelassen und stehen nun inmitten moderner, offener Wohnküchen. Wir erleben die Küche als Zentrum für die Familie, in dem gekocht, gegessen, gelernt, gearbeitet, gesprochen, gelitten, gelacht, gelebt wird. Der multifunktionale Raum, die Idylle aus dem IKEA-Katalog.
Ein Raum wie jeder andere?
„Der Raum ist ein Aushandlungsfeld und nicht vorgegeben auf eine Nutzung ausgerichtet“, erklärt die Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge 2022 im Gespräch mit der politischen Philosophin Friederike Landau-Donelly im Podcast Stadt.Raum.Frau*.
Räume innerhalb einer Wohnung (aber auch darüber hinaus) sind laut Meyer-Grohbrügge Verhandlungssache der Bewohner*innen. „Natürlich könnte man auch innerhalb der Wohnung die Rollen ändern, es könnte ja genauso der Mann in der Küche stehen“, schlägt sie vor, plädiert jedoch dafür, grundsätzlich Rollen zu vermeiden – für die Bewohner*innen wie für die Räume. Auch die Architektin Julia Heinemann spricht im gleichen Podcast von der Neuinterpretation von Räumen, wobei für sie Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle entscheidend sind, wie Räume erfahren werden.
Die große Frage ist und bleibt, wie man diese – fast philosophische – Annäherung an den Begriff „Raum“ nicht nur mit den ganz grundsätzlichen Anforderungen an eine Küche (nämlich die schlichte Nahrungszubereitung) in Einklang bringen kann, sondern auch mit persönlichen Anforderungen der jeweiligen Nutzer*innen dieser Küche und schlussendlich auch des sie umgebenden Wohnraums.
Wann koche ich für mich? Wann koche ich für andere, die mit mir unter einem Dach wohnen? Wann koche ich für Gäste? Was koche ich? Und wann kocht jemand für mich? Wann ist dieses Kochen Erholung? Rückzug? Luxus? Simple Nahrungszufuhr? Und welche Rolle nehme ich damit innerhalb meiner Gemeinschaft und schlussendlich innerhalb der Gesellschaft ein?
„Sie hatten alle Möglichkeiten“, schreibt auch Teresa Präauer und meint damit Frauen wie Männer gleichermaßen. „Hatten sie alle Möglichkeiten?“, fragt sie aber keinen Atemzug später ebenso und zeichnet anhand der lockeren, undefinierten Paarbeziehung der Gastgeberin die vermeintliche Freiheit beispielhaft nach: Wenn sich der Partner der Gastgeberin anpatzte, brauchte sie sich darum nicht zu kümmern. „Die Freiheit des Menschen bestand auch darin, dem jeweils anderen seinen Fleck zu lassen.“
Inmitten eines üppigen Angebots an Lebensmitteln und Lebensentwürfen seinen Platz zu finden, ist doch eine Lebensaufgabe an sich. So wie sich die Küchen seit Jahrzehnten in ihrem Design verändern, so wie sich die Küchen, die wir bewohnen und bewohnt haben, seit Jahren verändern, bewegt sich auch unsere Rolle in ihr mit. Wir finden unsere Rollen in der Küche, in der Gesellschaft nicht nur ein einziges Mal für den Rest unseres Lebens, sondern eben immer wieder aufs Neue – für bestimmte Lebensabschnitte, Jahre, Monate, Wochen. Oder nur für einen einzelnen Tag. Und morgen oder nächstes Jahr steht eben etwas anderes auf dem Speiseplan.
¹ Zolper, Andreas: Kohleherd. In Heimsoth, Axel/ Kerner, Frank (Hg.): Arbeit & Alltag. Industriekultur im Ruhr Museum, Essen 2015, S. 76-77.
Links zum Weiterlesen und Weiterhören
Teresa Präauer
Wallstein Verlag 2023
Mit diesem Titel hat es die Autorin übrigens auf die heurige Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, der am 16. Oktober zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse 2023 verliehen wird.
Teresa Präauer
Lieferdienst Wien. Ein Fortsetzungsroman in 52 Teilen
Queer-feministische Perspektiven auf Architektur, Stadtplanung und Aktivismus
Unsere Autorin
Katharina Sabetzer ist seit bald zwei Jahrzehnten in der Kommunikationswelt tätig. Sie lebt und schreibt in Wien und in der Steiermark und ist Inhaberin der Kommunikationsberatung Erzählbar mit Sitz in Wien.