von Mercedes Lietz
Der Sommer ist da und mit ihm auch eine Badesaison, die es in sich hat: Viele Bäder erteilen nun auch Frauen eine offizielle Oben-ohne-Erlaubnis. Ist das die Revolution, auf die unsere Nippel gewartet haben?
Zwei Jahre ist es jetzt schon her, dass sich Gabrielle Lebreton beim Sonnen in der Berliner „Plansche“ unweit des Treptower Parks dazu entschied, ihr Bikinioberteil einfach mal wegzulassen. Es war vermutlich genau so unspektakulär, wie es klingt. Dennoch wird ausgerechnet dieser schnöde Sommertag als der prekäre „Oben-ohne“-Fall in die Geschichte der Freibäder eingehen und eine Diskussion entfachen, die bis heute einfach nicht abreißen will. Denn kaum erblickten Frau Lebretons nackte Brüste das Licht der Liegewiese, forderte das Personal sie auch schon auf, sich doch bitte etwas anzuziehen. Sie lehnte ab. Die Männer um sie herum trugen schließlich auch kein T-Shirt. Wieso also nicht gleiches Recht für alle? Bald darauf rückte die Polizei aus und schaffte es, die brandgefährliche Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Frau Lebreton verließ das Freibad samt bedeckter Brüste. Jedoch nicht, ohne eine Klage gegen den Bezirk nach dem Landesantidiskriminierungsgesetz einzureichen, das die Diskriminierung –
in ihrem Fall aufgrund des Geschlechts – durch Behörden verbietet. Ein Urteil gab es bereits Stunden nach der Verhandlung: Die Klage wurde abgewiesen. Eine Begründung erfolgte nicht.
„Gleichheit ist kein Konzept. Es ist nicht etwas, wonach wir streben sollten. Es ist eine Notwendigkeit. Gleichheit ist wie Schwerkraft. Wir brauchen sie, um als Männer und Frauen auf dieser Erde zu stehen. Die Frauenfeindlichkeit, die in jeder Kultur herrscht, ist kein wahrer Teil der menschlichen Verfassung. Es ist ein Leben aus dem Gleichgewicht, und dieses Ungleichgewicht saugt jedem Mann und jeder Frau, die damit konfrontiert sind, etwas aus der Seele. Wir brauchen Gleichheit.“
Zitat von Joss Whedon, US-amerikanischer Drehbuchautor, Produzent, Regisseur & Comic-Autor
Mittlerweile dürfen in der „Plansche“ alle Geschlechter ihre Oberteile ausziehen, sowie auch in allen anderen Berliner Bädern. Anzahl der bisherigen Beschwerden: keine. Die Oben-ohne-Welle schwappt nun über ganz Deutschland. Hamburg hat sich bereits angeschlossen, in Göttingen haben die Brüste von Frauen und weiblich gelesenen Personen zumindest am Wochenende Freigang. Bundesländer, die noch nicht überzeugt sind, diskutieren zumindest. Auch in Österreich und der Schweiz wird fleißig hin und her debattiert. In Zahlen sieht die Stimmung laut einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur etwa so aus: 37 Prozent der Erwachsenen sind für eine Erlaubnis des Oben-ohne-Badens für alle Geschlechter, 28 Prozent sind dagegen, der Rest weiß noch nicht so richtig. Auffällig ist, dass ausgerechnet Männer begeisterungsfähiger sind, wenn es um die Gleichheit der Brüste geht. Ob das nun der freudige Beweis für die hohe Anzahl feministischer Männer in unserer Gesellschaft ist, oder doch eher der Grund dafür, dass Frauen sich mit ihrer Nacktheit wiederum zurückhalten wollen, sei einmal dahingestellt. „Kann man natürlich machen. Aber dann muss man halt damit rechnen, dass man angegafft wird“, sagt ein junger Mann Anfang zwanzig voller Überzeugung in einer Umfrage des hessischen Rundfunks nach einem örtlichen Frauenprotest, der unter dem Hashtag #freethenipple ebenfalls eine Oben-ohne-Erlaubnis in Schwimmbädern für das Bundesland Hessen forderte.
„Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen - sie bekommen nichts.”
Zitat von Simone de Beauvoir, Schriftstellerin, Philosophin & Feministin
Neulich stand ich in einem weißen Top vor dem Badezimmerspiegel meines Millstätter Hotels. Ich hatte mir dieses Kleidungsstück extra für diesen Urlaub gekauft. Enganliegend wurde es durch zwei Schnürungen über meiner rechten Schulter zusammengehalten. Ein BH war damit keine Option. Zumindest nicht, ohne den gesamten Look zu ruinieren. Das hieß allerdings auch, dass sich meine Brüste klar unter dem dünnen Stoff abzeichnen würden. Es war mir egal. Die Feministin in mir schrie mit geballter Faust: „Sei’s drum! Du siehst grandios aus und deine Brüste tun es auch!“ Bis ich schließlich im Restaurant saß. Ich weiß nicht, ob jemand mich oder meine Brüste überhaupt eines Blickes würdigte. Letztendlich war es egal. Das Gefühl, den Blicken anderer schutzlos ausgeliefert zu sein und etwas falsch zu machen, beschlich mich von ganz allein. Beinahe entschuldigend schlich ich zum Buffet, froh, einen Teller füllen zu können, den ich auf Brusthöhe halten konnte. Ich begann, die Stofflichkeiten der anderen Gäste zu analysieren. Die meisten Frauen schienen auf der sicheren BH-Seite geblieben zu sein, männliche Nippel wiederum blitzen mir in Scharen unter hellen oder spärlich zugeknöpften Hemden entgegen. Keiner ihrer Besitzer wirkte auch nur im Geringsten verunsichert. Sie hielten ihre Teller tief, niemand schlich. Wieder vor meinem Badezimmerspiegel angekommen, fiel die Anspannung eines gesamten Abends von mir ab. Meine Augen, die mich vorhin im Badezimmerlicht noch wohlwollend und selbstbewusst begutachtet hatten, wechselten vor der Türschwelle des Hotelzimmers plötzlich ihre Perspektive. Zu der eines Mannes, der meinen Körper bewertet, gemessen an dem, was er aus Film und Werbung kennt. Zu der einer Frau, die nach seinen Kriterien meinen Körper mit ihrem eigenen vergleicht. Zu der einer Gesellschaft, die sich allein von der zu offensichtlichen Existenz meines Körpers belästigt fühlen könnte. Die Feministin in mir schrie immer noch, nur schrie sie mich mittlerweile an und ihre geballte Faust schien mir von innen in die Magengrube zu schlagen.
Weibliche Brüste gibt es eigentlich nicht. Zumindest nicht in unserem Alltag. Erwünscht sind sie lediglich in einer ihr streng zugewiesenen Parallelwelt, in der sie unzensiert existieren dürfen. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf Plakate und Leinwände, von Werbespots über Hollywood-Produktionen bis hin zur Pornografie. Dabei bekommt längst nicht jede Brust freien Eintritt, sondern nur eine ganz bestimmte: der Apfelbusen. Etwas größer, fest, rund. Wie eine perfekte Apfelhälfte eben. Dieses Bild zieht sich mit kleinen Ausnahmen bereits seit der Antike durch alle Epochen der Kunst. Das Abbild der perfekten Brust umgibt uns also schon so lange, dass es zum Geheimnis der Frauen selbst geworden ist, dass Brüste in der wirklichen Welt in allen möglichen Formen und Farben vorkommen. In der Regel sind es historisch gesehen nämlich die Männer, die die weibliche Brust porträtieren. Abgesehen davon, dass weibliche Künstler in der Vergangenheit ohnehin kaum Aufmerksamkeit bekamen, liegt das auch daran, dass ihnen das Erlernen von Aktmalerei lange untersagt war. Seit 1973 haben wir dank der britischen Filmtheoretikerin Laura Mulveys sogar einen Namen für dieses Phänomen: the Male Gaze. Gemeint ist damit die sexuelle Ungleichheit, die unseren Blick auf Frauen in aktiv-männlich und passiv-weiblich unterteilt. Der heterosexuelle männliche Blick (the Male Gaze) projiziert seine Fantasien auf den weiblichen Körper, wodurch der Frau die Rolle des Sexobjekts zugeteilt wird. Jedes Bild, das ein Mann von einer Frau kreiert, strahlt daher eine bestimmte Erotik aus, wodurch man der Porträtierten automatisch unterstellt, dass sie betrachtet werden will. Auch wir Frauen sind so an den Male Gaze gewöhnt, dass wir uns selbst und die Frauen um uns herum wie selbstverständlich aus Männeraugen betrachten. Die französische Autorin Camille Froidevaux-Metterie, die vor wenigen Jahren ein Bild- und Essayband über die Vielfalt von Brüsten veröffentlichte, bezeichnet die weibliche Brust daher auch als „überfordertes Körperteil“: Zum einen ist sie ein Symbol für Sex, zum anderen nährt sie den Nachwuchs. Beides zusammenzubringen ist für viele Frauen mittlerweile so schwierig, dass sie sich teilweise gegen das Stillen entscheiden, da sie der Erotik ihrer Brüste eine so große Rolle zumessen, dass sie sie in keinen anderen Kontext setzen wollen. Im Übrigen entschied sich auch Frau Froidevaux-Metterie selbst für ein weiteres Foto des perfekten Apfelbusens für ihr Buchcover. „Ich hätte mir dort einen nicht so perfekten, vielleicht größeren, hängenden Busen gewünscht. Wir haben dann einiges ausprobiert, aber es war nicht möglich, nicht erträglich, einen realen, banalen Busen abzubilden“, erzählt sie der ZEIT. Für die Verkaufszahlen sicher eine kluge Entscheidung.
Wenn ich Urlaubsbilder aus meiner Kindheit betrachte, sehe ich mich darauf oft mit nackter Brust am Strand spielen. Ich muss wohl zwischen 8 und 10 Jahre alt gewesen sein, als meine kleinen gerüschten Badehosen von vollständigen Bikinis und Badeanzügen abgelöst wurden. Ich erinnere mich nicht daran, wie es dazu kam. Ob meine Eltern mir eines Tages auftrugen, meine Brüste von nun an zu bedecken oder ob ich selbst es war, die den Wandel der Badegarderobe herbeigeführt hat. Genauso wenig erinnere ich mich an die Zeit Prä-Bikinioberteil selbst. Als ich mir noch nichts daraus zu machen schien, dass andere Menschen meine flache Brust sehen konnten. Als meine Brustwarze noch ein Körperteil wie jeder Zeh war. Als alle Körper gleich waren. Woran ich mich umso besser erinnere, sind die Jahre Post-Bikinioberteil. Das ständige „Zurechtzupfen“, das „Brust-Rausdrücken“, das „Alles-gut-Festhalten“, bevor es das Sprungbrett hinunterging. Das umständliche „Handtuchvorhalten“, um ungesehen vom T-Shirt in den Bikini oder umgekehrt wechseln zu können, die nervöse Verunsicherung, wenn ich die Blicke von Mitschüler*innen auf meinem Körper spürte. Ist 2023 also der Sommer, in dem wir die Freiheit zurückbekommen, die uns im Alter von acht Jahren genommen wurde? „Kann man natürlich machen. Aber dann muss man halt damit rechnen, dass man angegafft wird.“
Seien wir mal ehrlich: Von heute auf morgen ein Körperteil nackt zu präsentieren, für dessen alleinige Präsenz man sich über Jahre und Jahrzehnte zu schämen gelernt hat, ist nicht jederfraus Traum. Vor allem, solange man sich online weiterschämen soll. Auf Social Media gilt nämlich immer noch: nackte Männerbrüste gerne, Frauenbrüste bitte nur zensiert. Im Übrigen ist es erlaubt, Männernippel über Frauennippel zu photoshoppen. Laut einer Umfrage des NordVPN aus dem Jahr 2021 verbringen die Deutschen im Schnitt 24 Jahre, 8 Monate und 14 Tage online. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 81 Jahren verbringen wir also nahezu ein Drittel unseres Lebens im Netz. Die Werte von Gen-Z liegen noch einmal deutlich höher. Zwei Drittel Oben-ohne, ein Drittel Smileys auf den Nippeln. Ob diese Gleichung schon aufgeht, um von der Befreiung des weiblichen Körpers zu sprechen, ist fraglich. Doch es könnte zumindest heißen, dass bereits ein Teil der Strecke geschafft ist.
„Es ist an der Zeit, mit dem Versuch aufzuhören, Frauen zu verändern, und damit zu beginnen, die Systeme zu verändern, die sie daran hindern, ihr Potenzial zu entfalten.“
Zitat von António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen
„Freiheit und Scham gehen Hand in Hand“, sagte einst der gute alte Friedrich Nietzsche. Für ihn bedeutete wahre Freiheit, sich von den Schamgefühlen, die kulturell anerzogen sind, lösen und befreien zu können. Befreiung ist also ein aktiver Prozess. Ein „Freistrampeln“, wenn man so will. Oben-ohne-Regelungen allein ersetzen also noch nicht die Arbeit, die nötig ist, um unsere Brüste endgültig aus ihrem Stoff-Gefängnis zu befreien. Zumindest aber sind sie eine wichtige Voraussetzung, um mit dem Prozess zu beginnen. Damit gemeint sind nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer. Wir alle müssen uns freistrampeln von der grundsätzlichen Annahme, dass Frauen angesehen werden wollen. Von dem Konzept, dass Nacktheit Erotik bedeutet. Dem ungeschriebenen Gesetz, dass es nur eine Art von Brüsten gibt, die es wert ist, überhaupt zu existieren. Dafür müssen vor allem wir Frauen uns unterstützen und uns weder für die An- noch für die Abwesenheit von Stoff an unseren Körpern verurteilen. Weg vom Male Gaze, hin zum Female Gaze bis hoffentlich zum Human Gaze.
Buchempfehlungen von unserer Autorin
Emily Ratajkowski
Camille Froidevaux-Metterie
Unsere Autorin
Mercedes Lietz ist freie Journalistin und Werbetexterin und lebt derzeit in Hamburg. Nach ihrem Modejournalismus-Studium im bunten Berlin zog es sie nach New York und Mailand, wo sie noch tiefer in die Welten der Mode, Kunst und Popkultur eintauchte. Dabei interessiert sie sich vor allem für die Menschen, die sie kreieren und vorantreiben, und ihre Inspirationen, Identitäten, Hoffnungen und Zukunftsvisionen.
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