von Pamela Rußmann
Es gibt ja so Dinge, von denen man sich fragt, wie es sein kann, dass die nicht und nicht verschwinden, obwohl man selber seit Jahren nicht mehr aktiv zur Beibehaltung beigetragen hat.
Das Verwenden von Wimpernzangen zum Beispiel. Oder Flaschendrehen. Oder das Tragen von Cowboystiefeln. Dinge, die einen in einer bestimmten Phase des Lebens erwischen, wie der glitzernde Sommerregen, einen trockenen Ackerboden. Plötzlich, aber ausgiebig.
Seit einigen Generationen ist bei Volksschulkindern das Austauschen von so genannten Freundschaftsalben beliebt. In meiner Schulzeit konnte man Kinder aus begütertem Haushalt daran erkennen, dass sie in der großen Pause feierlich Büchlein von Sarah Kay aus der Schultasche entnahmen. Wir anderen blätterten scheinbar unbeeindruckt in den Erzeugnissen aus dem Hause „No Name“. Heutzutage bietet der Handel vom schrei-bunten Bob-der Baumeister-Design bis zum delikat designten DIY-Erwachsenenfreundschaftsbuch eine Armada an Möglichkeiten für Liebhaber*innen von Memoiren von 0 bis 99 Jahre, dass einem schwindlig wird.
Der Nebeneffekt von einem sogenannten Album Amicorum: Man wird in jungen Jahren von einer Instanz (Buch!) aufgefordert, sich auf einer Doppelseite mit Foto zu deklarieren und zu definieren. Auf kitschgeplagtem Papier gravierten wir nach ausgiebiger Selbstreflexion (oder in Mamas Worten) mit akkurat gespitztem HB-Bleistift die Antworten auf Fragen nach Lieblingsserie, Lieblingsfarbe, Lieblingslehrer(in) oder „Mein größter Wunsch ist...“ ein.
Volksschulkinder sind zwar ab einem gewissen Erkenntnisstand imstande, eigenständig Buchstaben aneinanderzureihen und einzelne Wörter sinnerfassend zu entziffern - da ist man als Elternteil aus dem Schneider. Zirkulieren die Freundschaftsalben zu früh, obliegt es der Mutter, dem Kind verständlich zu erklären, was ein englisches Hobby ist und wieso der Ausdruck Steckenpferd nicht wirklich besser ist.
Volksschulkinder sind wahrscheinlich die angepasstesten Wesen der Welt. Hier bedeutet Individualismus noch Außenseitertum. Um nur ja nicht aus der Reihe zu tanzen, haben wir in stiller Übereinkunft aka „peer pressure“ in der Zeile Hobbies (gern auch: Hobbys) eh alle das gleiche notiert: lesen, zeichnen, schwimmen, Rad fahren. Brav sind´s, die Mädchen!
Nicht auszudenken, jemand wäre so gewitzt gewesen und hätte Schokolade essen, den kleinen Bruder ärgern oder schlafen hingeschrieben. Undenkbar. Freak! Mit der lassen wir uns in der Pause nimmer sehen.
Wenn ich dich jetzt nach deiner Lieblingsbeschäftigung fragen würde, was würdest du antworten?
Ich habe in den letzten Monaten tatsächlich einige Male diese Frage gestellt bekommen, mal in beruflichen, mal in halb-privaten Zusammenhängen. Und meine Antwort lautet: liegen!
Ich liebe es zu liegen!
Auf meiner Couch, in meinem Bett, auf der Picknickdecke in der Wiese, am Strand, im Freibad, auf dem Balkon. Und am liebsten: nur in meiner Gesellschaft. Mit halb offener Wahrnehmung, nicht schlafend, nicht teilnahmslos, aber auch nicht superaktiv verwickelt in die Mitwelt. Osmotisch quasi.
Als berufstätige Frau mit Kind und Haushalt ist die Ansage „ich lege mich jetzt hin“ de facto etwa eineinhalb Jahrzehnte nicht umsetzbar. Es gibt immer was zu tun. Im-mer.
Playmobil spielen, Apfelschnitze schneiden, staubsaugen, Emails schreiben, in Meetings sitzen, einkaufen, kochen, basteln, Chauffeurin sein, trockene Schnittkäsefragmente aus Rucksackseitentaschen zu kletzeln, vorlesen, zum Zähne putzen antreiben, Winterschuhe kaufen, das Bad putzen, usw. usf.
Die to do-Liste zieht sich wie ein Uhrwerk von selber jede Nacht wieder auf, bis in der Früh der Wecker klingelt und die lange Schnur an Dingen, Tätigkeiten, Situationen, Handlungsanweisungen sich ausbreitet vor dir zu einem riesengroßen Netz, das du bis zum Abend durchgearbeitet, abgeschnitten, zusammengeräumt, aufgewickelt und in die Schranken verwiesen hast, nur um zu wissen, morgen geht es wieder von vorne los. Eine kluge Freundin hat mir mal erklärt, sie betrachte diese Tagesaufgaben als ihre Asanas. Als eine Abfolge von Tätigkeiten, zu denen sie nicht in den Widerstand geht und die sie einfach ohne groß nachzudenken erledigt. Das Wort, das bei mir hängengeblieben ist: erledigt. ICH bin erledigt.
Jetzt kann ich sagen: gewesen. Denn irgendwann habe ich mir das Liegen und vor allem: das Liegenbleiben wieder zurückerobert.
Wenn ich mich mit dem Rücken auf das Sofa lege, die Schwere meines Körpers auf der Unterlage aufliegen, spüre ich, wenn ich merke, wie sich mit jedem Atemzug mein Körper mehr und mehr von der Erde tragen lässt, dann ist das meine Auszeit. Mein sinnlicher Protest gegen den Kapitalismus und gegen das Hamsterrad (das von innen ja leider aussieht wie eine Karriereleiter).
Wenn ich liege, den Blick ein wenig durch das geöffnete Fenster Richtung Wolken lenke, die Handflächen ruhen auf dem Bauch und bewegen sich mit dem Atem mit, das Handy gibt keinen Laut von sich, dann hat das Außen Pause.
Ich bin nach Marktgesetzen in diesen Minuten unproduktiv. Ich trage nicht zum Wirtschaftswachstum bei. Meine Kaufkraft ist nicht mehr messbar. Stattdessen erholt sich mein Geist. Die Gedanken und Grübeleien sortieren sich über mir, sinken irgendwann ebenfalls herab, integrieren sich und nehmen ihre Plätze ein. Nichts mehr zieht an mir, keiner zerrt an mir oder zapft mich an. Die verschiedenen Rollen und Anteile von mir, mit denen ich durch die Welt renne, alle Schichten, die mich ausmachen, dürfen zu einem stabilen, aber flexiblen Ganzen werden.
Ich gewinne durch das Liegen wieder an Form.
Ein Ausdruck, der vielleicht absurd klingt in dem Zusammenhang, verbinden wir doch „eine gute Form“ eher mit sportlichen Höchstleistungen und physischer Fitness.
Aber ich sage euch: ich trainiere dabei! Nämlich meine Entspannungsfähigkeit.
Denkt nur an das Sprichwort: In der Ruhe liegt die Kraft. Eben.
Und für all jene, die die Antwort „liegen“ wenig überzeugend finden, schlage ich folgendes Wording für das Freundschaftsbuch vor:
Mein Hobby ist: Ich bereite mich auf die Postwachstumsgesellschaft vor.
Unsere Autorin:
Pamela Rußmann fotografiert seit ihrer Kindheit und parallel dazu schwingt stets die Liebe zu(m) Texten mit: Sie arbeitete beim ORF-Radiosender FM4, ist Gründungsmitglied der ORF-Late-Night-Show „Willkommen Österreich“ und verschlingt und diskutiert mit großer Leidenschaft Literatur im von ihr gehosteten Buchklub „Salon Sorority“. Für das Jahr 2020 hatte sie ein neues Lebenskapitel geplant, sie zog einen Schlussstrich unter ihre Fernsehtätigkeit, ab Mitte März war alles darauf ausgerichtet, den Fokus komplett auf die Fotografie zu legen. Doch dann kam der erste Lockdown und ihr bereits schön gefüllter Kalender war plötzlich leergefegt. Aber der Lockdown hat sie nicht blockiert, sondern sie hat in dieser Zeit ein kreatives Projekt entstehen lassen und im Lockdown Frauen auf der ganzen Welt zu einem Online-Shooting gerufen – deren Portraits und Gedanken zur Pandemie sind im bewegenden Buch: „Irgendwann geht auch das vorbei“ festgehalten.
Die Fotografin zog selbst wichtige Lehren aus ihrem Projekt, unter anderem, wie wertvoll persönliche Kontakte sind, wie wenig es bedarf, um zufrieden zu sein, „und wie wirklich zerbrechlich das Leben ist. Wir haben bemerkt, wir haben alle in einer Schein-Sicherheit gelebt und von einem Tag auf den anderen war das Leben komplett anders.“
Pamela hat sich als Fotografin auf Porträts von Frauen spezialisiert, die Bandbreite geht von Personal Branding / Businessportraits über Life Photography wie Babybauchfotos oder Couple Shootings bis hin zu Pressefotos für all jene, die eine professionelle fotografische Repräsentanz in den Medien brauchen. www.pamelarussmann.at