von Eszter Ambrózi
"Sollen wir deinen Kopf rasieren?”, fragte mich eine Freund*in an einem Abend im Jänner.
Diese Idee kam mir zum ersten Mal vor etwa sieben Jahren, aber ich habe mich nie getraut, sie umzusetzen. Wie sehe ich denn dann aus? Gefalle ich mir ohne Haare? Wie verändert sich die Wahrnehmung anderer von mir? Bin ich dann noch weiblich genug? Hübsch genug?
Mein Herz fing an zu klopfen und ich fasste mir instinktiv in die lange, rote Löwenmähne. “Okay, wieso nicht?”
Eine Stunde später stand ich vor dem Spiegel und fuhr mir fassungslos über die frisch rasierte Stoppelfrisur. Ich war ein anderer Mensch. Am nächsten Tag rasierte mir mein Mitbewohner den Kopf komplett glatt. Gestern waren mein bestimmendstes körperliches Merkmal meine langen Wellen. Heute kichern wir mit meinem Mitbewohner über das ungewohnte Gefühl meiner glänzenden Kopfhaut.
Facettenreiches Haar
Unsere Haare sind eines der ersten Dinge, die an unserem Äußeren auffallen. Die Rolle, die sie spielen, ist für jeden Menschen unterschiedlich. Sie können ein wichtiges Ausdrucksmittel des persönlichen Stils sein, ein Symbol der Rebellion oder der Anpassung, oder sogar ein politisches Statement. Während manche im Teenageralter die wildesten Farben ausprobieren und durch die Haare auffallen wollen, versuchen andere ihre Mähne zu bändigen, um sich der breiteren Masse anzupassen.
In der Black Panther Bewegung in den 60er Jahren in Amerika war das Tragen des natürlichen Haares von schwarzen Menschen ein Zeichen des Widerstandes gegen die Unterdrückung des weißen Patriarchates. Das Tragen oder das Bedecken des natürlichen Haares kann auch religiöse Bedeutungen haben und erscheint immer wieder im politischen Diskurs.
Aber was sind Haare eigentlich und wieso haben sie so eine große Bedeutung?
Unsere Haare bestehen, so wie unsere Nägel auch, zum Großteil aus Keratin und zählen zu den Hautanhangsgebilden. Wenn Schadstoffe in unseren Blutkreislauf gelangen, werden sie als Endstation in den Haarfollikeln gespeichert. Mit einer Analyse der Haare ist festzustellen, ob wir Stress ausgesetzt waren oder welche Substanzen wir konsumiert haben. Einige Wissenschaftler*innen behaupten sogar, über die Haare eines Menschen Aussagen über seine Ernährungsgewohnheiten treffen zu können.
All das tragen wir tagtäglich mit uns mit. Und wenn wir bedenken, dass das Haar im Durchschnitt nur etwa einen Zentimeter pro Monat wächst, sind das bei einer brustlangen Mähne ungefähr vier Jahre an Erfahrungen, Gefühlen, Stress, Ernährungsumstellungen und vieles mehr, das wir buchstäblich auf den Schultern tragen.
Haare als Spiegel unseres Selbstwerts
Unsere Haare sind also ein wichtiger Teil von uns. Äußerlich bestimmen sie unseren Typen und beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung anderer, sondern auch unsere Selbstwahrnehmung.
Viele kennen vermutlich das Gefühl der kompletten Verwandlung, das mit einer neuen Haarfarbe einhergeht. Oder die Typveränderung, nachdem man den Kurzhaarschnitt endlich gewagt hat.
So viel von unserer Identität steckt darin, wie wir unsere Haare tragen. Wir haben eine emotionale Bindung zu ihnen. Bei meinem letzten Friseurbesuch brach die junge Frau im Sessel neben mir in Tränen aus, als der Friseur anfing, ihr die Spitzen zu schneiden. Dieses Gefühl kennt vermutlich jeder. Die Angst vor Veränderung, ob der neue Schnitt mir wohl steht, es darf ja nicht zu kurz werden! Denn zu kurz könnte für viele bedeuten - nicht weiblich genug.
“Sich von einem der dominantesten Merkmale der Weiblichkeit zu verabschieden fällt den meisten Frauen* nicht leicht.”
Langes, wallendes Haar wird seit jeher als Zeichen der Weiblichkeit gesehen. Aus biologischer Sicht lässt sich das darauf zurückführen, dass eine große Haarpracht mit Gesundheit und Fruchtbarkeit verbunden und somit als anziehend empfunden wird. Deshalb ist das Schönheitsideal für Frauen* diktiert von voluminösen Locken, langen Strähnen und zerzausten Beach Wellen. Es ist ein Zeichen für Sexiness und Sinnlichkeit und ein eindeutiges Merkmal einer weiblichen Person. Auch heute noch ist es seltener, Frauen* mit sehr kurzem Haarschnitt und Männer* mit langen Haaren zu sehen. Mittlerweile werden allerdings auch diese Standards hinterfragt. Immer mehr Frauen* lehnen sich dagegen auf und tragen kurze Schnitte oder rasieren sich Side- oder Undercuts in die Mähne.
Aber, wie alle gesellschaftlichen Veränderungen, ist auch das ein Prozess und sich von einem der dominantesten Merkmale der Weiblichkeit zu verabschieden fällt den meisten Frauen* nicht leicht.
Konfrontation mit der Selbstwahrnehmung
Besonders wenn der Verlust der Haare unfreiwillig passiert, ist das eine große Herausforderung für die Meisten. Unsere Haare tragen eine Spur unseres Lebensstiles in sich. Sie erleben und reagieren auf unser Umfeld. Neben Krankheiten können Stress, Hormone, Unausgeglichenheit oder Traumata zu Haarverlust führen und konfrontieren uns plötzlich mit der Möglichkeit, dass sich unser Aussehen drastisch und unfreiwillig verändern wird.
Anfang letzten Jahres, noch mit voller Haarlänge, war ich enorm viel Stress ausgesetzt. Mein Körper reagierte darauf und ich verlor auf der Seite meines Kopfes einen mandarinengroßen Teil meiner Haare. Als ich die kahle Stelle bemerkte, warf es mich komplett aus der Bahn. Die Vorstellung, dass sie sich ausbreiten könnte, versetzte mich in Panik. Und ich fragte mich: Wieso? Es sind ja schließlich nur Haare. Ihr Verlust verändert nur mein Aussehen. Ich entspreche dann vielleicht nicht dem traditionellen Schönheitsideal einer Frau* mit langen Haaren - aber ist denn das so schlimm? Letzten Endes wuchsen sie aber nach; nachdem ich einige Gänge runter geschaltet habe, folgte mein Körper und ließ mich wissen, dass alles wieder gut war.
Dieses Phänomen ist gar nicht so selten, sowohl bei jungen als auch älteren Menschen. Unsere Haare sind ein guter Indikator dafür, wie glücklich unser Körper mit unserem Lebensstil ist.
Unabhängig vom Lebensstil erreicht uns Frauen* eines Tages die Menopause und die damit einhergehenden Veränderungen, unter denen auch Haarausfall sein kann. Wieder sind wir durch den natürlichen Alterungsprozess mit der Angst vor dem potenziellen Verlust unserer Weiblichkeit konfrontiert. Wieder fühlen wir uns wegen etwas nicht mehr so attraktiv, wogegen anzukämpfen vermutlich mehr Frustration als Erfolg bringt. Und wozu? Die Idealvorstellung der vollen Haarpracht ist schön anzusehen - aber kein Muss. Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter ihr Haar toupiert hat, nachdem es dünner geworden ist. Sie erwähnte immer wieder, wie wenig Haare sie noch hatte und dass man da doch etwas machen muss. Aber mir fiel das nie auf. Ich sah nur die starke, wunderschöne Frau, die ich so liebe und bewundere.
Der Weg zu einer neuen weiblichen Identität
Als ich nach meiner Kopfrasur zum ersten Mal mein Spiegelbild betrachtete, wusste ich nicht, wie ich mich fühlen sollte. Auf der einen Seite spürte ich die Angst davor, dass ich jetzt das Symbol meiner Weiblichkeit, meine Schönheit verloren hatte.
Mein Haar war das Accessoire, ohne dem ich mich nicht sicher fühlte. Immer, wenn ich besonders hübsch aussehen wollte, trug ich mein Haar offen.
Die meisten Komplimente für mein Äußeres waren eine Variation von “Du hast so schöne Haare!”. Ich definierte einen großen Teil meiner Attraktivität über meine Mähne. Langes, offenes Haar ist schließlich auch ein Zeichen der Sinnlichkeit und Sexualität - wo war nun meine Sinnlichkeit?
Auf der anderen Seite war das starke Gefühl der Verankerung in mir selbst. Ich fand mich nicht besonders weiblich mit der Glatze - aber ich war ich selbst, ohne den Rahmen um mein Gesicht, der doch auch irgendwie als Versteck diente. Ich fand neue Aspekte, die mir ebenso gut gefielen, wie meine langen Wellen, wenn nicht sogar besser. Und es hatte nichts mehr mit Weiblichkeit zu tun, sondern viel eher mit meiner Identität. Das war einfach ich.
Diese Seite überwiegt bis heute und ist unendlich dankbar, dass ich die Rasur gewagt habe. Sie hat mein Leben verändert und mich von meiner bis dahin rigiden Vorstellung meiner eigenen Weiblichkeit befreit.
Unser Haar ist so vielschichtig in seinem Aussehen und seiner Bedeutung, wie wir. Es kann in vielen Hinsichten wichtige Hinweise zu unserer Gesundheit liefern - aber es sollte auf keinen Fall bestimmen, wie attraktiv oder weiblich wir uns fühlen. Es ist ein Accessoire, das wir tragen können, wie wir wollen. Wir wissen, dass es sich mit der Zeit verändern wird. Aber das ist gut so. Wir verändern uns schließlich auch. Und egal, wie wir unser Haar tragen oder auch nicht: die einzige Person, die das diktieren darf, sind wir selbst für uns.
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