TEXT: CHRISTINA KAISER & PAMELA RUSSMANN
Ob gesteigerte Immunabwehr, bessere Atmung oder Stressabbau: Dem Wald werden immer mehr Vorteile für unsere Gesundheit zugeschrieben. Wir haben uns gefragt, warum der Wald uns so gut tut und wollten wissen, wie die Medizin die heilende Wirkung des Waldes begründet.
Die heilende Atmosphäre des Waldes
Der Begriff Waldbaden kommt ursprünglich aus Japan und ist dort unter dem Namen „Shinrin Yoku" eine bereits seit den 1980er-Jahren in der Gesundheitsvorsorge anerkannte Methode. Tatsächlich verschreiben japanische Medziner*innen ihren Patient*innen mitunter mehrtägiges Waldbaden. Japan ist nach Finnland das zweitwaldreichste Land der Welt: 67 Prozent der Fläche Japans besteht aus Forstgebieten. Aber nicht nur in Ostasien, sondern auch in waldreichen europäischen Ländern wie Österreich, Deutschland und der Schweiz gehört der Aufenthalt unter Tannen, Fichten oder Buchen oder das Wandern auf Waldwegen zu beliebten, fast schon selbstverständlichen Freizeitbeschäftigungen. Wir nehmen die Waldatmosphäre, zu der auch die Struktur des Waldes, die zahlreichen Grünschattierungen und seine Ästhetik gehören, mit all unseren Sinnen wahr und verarbeiten sie unterbewusst. All diese Elemente der Waldatmosphäre haben konkrete gesundheitsfördernde oder therapeutische Wirkungen.
„Forest Medicine“
In jüngster Zeit interessiert sich auch die Wissenschaft für diese wohltuenden Effekte. Die so genannte Waldmedizin ist ein relativ junger Zweig im Bereich „Public Health“, also des öffentlichen Gesundheitswesens, und wird in Japan als bedeutendes Forschungsgebiet in Sachen „Environmental Immunology“ betrachtet. Japan ist auch jenes Land, das weltweit die meisten wissenschaftlichen Daten zum Thema akkumuliert.
Dr. Qing Li, Professor in der Abteilung „Hygiene and Public Health“ der Nippon Medical School in Tokyo, forscht beispielsweise seit 2005 im Bereich der als Präventive betrachteten „Forest Medicine“. Er hat unterschiedliche Studien mit Proband*innen durchgeführt und konnte zahlreiche bahnbrechende Resultate nachweisen. So hat er etwa mit seinem Team herausgefunden, dass bereits ein Waldspaziergang pro Monat für eine konstant erhöhte Anzahl von Killerzellen im Körper sorgt und somit langfristig eine bessere Immunabwehr aufgebaut werden kann. Als Killerzellen bezeichnet man vereinfacht gesagt jene Zellen des Immunsystems, die von Krankheiten befallene oder ungünstig veränderte Zellen erkennen und töten können. Nach nur einem Tag im Wald befinden sich fast 40 Prozent mehr dieser Abwehreinheiten des Immunsystems im Blut. Killerzellen funktionieren also als „hauseigene Abwehr“ und wenn diese gestärkt wird, dann haben wir größere Chancen, alles, was nicht hineingehört (bis hin zu Tumorzellen), über diese Killerzellen abzuwehren. Zusätzlich beruhigt sich durch die Waldtherapie der Herzschlag messbar, der Blutdruck normalisiert sich und weniger Stresshormone zirkulieren in unserem Körper.
Umarm doch mal einen Baum!
Auch medizinische Einrichtungen in Europa setzen immer stärker auf die heilenden Kräfte des Waldes: In Heringsdorf an der Ostsee hat der europaweit erste therapeutische Kur- und Heilwald eröffnet. Auf 187 Hektar bietet das Gelände zahlreiche Therapiemöglichkeiten an, unter anderem den ersten Heilwald speziell für Kinder. Das Immanuel-Krankenhaus in Berlin bietet ebenfalls Erholungssuchenden einen Waldbadepfad am Berliner Wannsee an. In diesem Onlinevortrag
erläutert Dr. Michael Jeitler, Studienarzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Naturheilkunde, neue Entwicklungen im Bereich des Waldbadens und geht auf die aktuelle Datenlage ein. In Graz hat Mag. Ulli Felber mit ihrer „Waldwelt“ das erste Institut für Waldbaden in Österreich gegründet und bietet mit ihrem Team u. a. auch zertifizierte Ausbildungen für Waldtrainer*innen und Workshops an. In Österreich gibt es außerdem in verschiedenen Regionen spezielle naturnahe Urlaubsziele.
Was bewirkt Waldtherapie?
Dr. med. Christine Müller, medizinische Leiterin des Bayrischen Gesundheitshotels „Das Kranzbach" erklärt: „Die Hauptwirkung wird vor allem über den Atemtrakt erzielt. Die bioaktiven Substanzen, darunter die so genannten Terpene, die der Wald auf verschiedenen Kanälen ausströmt, etwa über Nadeln, über den Boden und Bodenorganismen, über Rinden und Harze, nehmen wir primär über die Lunge auf. Diese Stoffe lösen verschiedene physiologische Funktionen aus, die uns gut tun.“
Die Sommermonate Juni bis August sind die ideale Zeit, um im Wald aufzutanken und zu entspannen, denn bei einer Temperatur um die 30 Grad ist die Sättigung der Waldluft mit Terpenen und Phytonziden am höchsten. Terpene sind aromatische, ölige Verbindungen, die von Pflanzen freigesetzt werden und die für den typischen würzigen Waldgeruch sorgen. An die 100 verschiedene Terpene sollen sich in den Mischwäldern finden. Diese biogenen Wirkstoffe, auch Phytonzide genannt, dienen den Bäumen dazu, selbst gesund zu bleiben. Die Pflanzen des Waldes kommunizieren auf diese Weise untereinander: Sie schütten die Terpene aus, geben sie an die Luft ab und warnen sozusagen die anderen Pflanzen vor Angreifern und Schädlingen. Prof. Qing Li wiederum hat in seiner Forschung gezeigt, dass durch diese „Baum-Kommunikation" auch wir Menschen profitieren und unser Immunsystem angeregt wird.
„Wenn man spürt, dass der Wald einem gut tut, dann wird man ihn automatisch in seinem Leben mehr und mehr einbauen.” - Dr. Christine Müller
Absichtslosigkeit als Übung
Auf unsere Frage, was man denn im Wald tun sollte, um die besten Effekte zu erzielen, antwortet Dr. Christine Müller: „Gar nichts zu tun und absichtslos zu sein, die Baumkronen anzusehen und die gute Luft zu atmen, ist sicher die Urform. Die Japaner legen ihre Patienten sogar auf den Waldboden. Natürlich kann man auch Kombinationen finden. Joggen im Wald oder Yoga zum Beispiel. Wenn man allerdings nur den Wald funktionalisiert, dann hat man ihn oft auch nicht verstanden. Den Wald nur als Kulisse zu nehmen, da ist die Frage, wie viel bleibt von dem Effekt?“
Mittlerweile interessieren sich nicht nur Mediziner*innen, sondern auch Psycholog*innen, Psychiater*innen und auch Pädagog*innen für die heilende Wirkung des Waldes. Es geht dabei also nicht nur ums körperliche Wohlfühlen, sondern auch der psychologische Aspekt rückt deutlich in den Mittelpunkt.
„Für Meditation oder Atemübungen muss man immer eine Technik lernen”, stellt Christine Müller fest, „im Wald muss man gar nichts lernen, man muss nur hingehen und offen sein."
Abenteuer im Wald
Warum fühlen sich Kinder ganz selbstverständlich wohl im Wald und warum wird es ihnen dort nie langweilig? „Letztendlich stammen wir von affenähnlichen Lebewesen ab“, analysiert Müller, „und die haben in Bäumen und in den Savannen gelebt, das ist in unserem genetischen Gut mit Sicherheit gespeichert. Der Wald war ein Sinnbild für versorgt sein und Schutz finden. Dieses Urbild stärkt uns, es bringt uns auf den Boden und zu unseren Wurzeln zurück.”
Die Natur, meine Nervenheilanstalt
„Das, was der Mensch immer intuitiv gespürt hat, nämlich dass ihm der Wald gut tut, beruht heute auf wissenschaftlich fundierten Grundlagen“, betont die Medizinerin Müller. „Das hat nichts mehr mit Esoterik und Glauben zu tun." Die mit Abstand beste Nervenheilanstalt ist die freie Natur, meint auch der österreichische Dichter und Aphoristiker Ernst Ferstl. Und Friedrich Nietzsche schrieb in seiner 1878 erschienenen philosophischen Schrift „Menschliches, Allzumenschliches“: „Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat." Wie wahr!
Unsere Expertin
Frau Dr. Christine Müller, geboren in Frankfurt/Main, hat in Innsbruck Medizin studiert und promoviert. Sie hat an der Psychiatrischen Klinik in Hall in Tirol und an der Innsbrucker Universitätsklinik praktiziert. Von 2005 bis 2009 setzte sie ihre Karriere als praktische Ärztin im renommierten Gesundheitszentrum „Lanserhof“ in Tirol fort. Seit 2010 ist sie ärztliche Leiterin im Vitalhotel „Das Kranzbach“ bei Garmisch-Partenkirchen und führt ihre Abteilung nach einem ganzheitlich präventiv-medizinischen Ansatz.
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