Meine Liebe,
Nach deinem unerwarteten Anruf gestern Nacht bin ich noch eine Weile an meinem üblichen Telefonierplatz sitzen geblieben, um ein wenig über uns zu schmunzeln. Am Ende war es, für mich zumindest, schon etwas spät geworden – du bist ja die Nachteule von uns beiden. Überhaupt sind wir in Vielem unterschiedlich, was aber nur selten eine Rolle gespielt hat. Auch nach langer Funkstille fühlt es sich jedes Mal so an, als führten wir eine nahtlose, sich nun bereits über Jahrzehnte erstreckende Unterhaltung.
Angefangen hat das ganze, da waren wir noch zu klein, um bewusst auf die Vorzeichen einer richtig guten Freundschaft zu achten. Wie sehen diese übrigens aus? Auch Jahrzehnte später bin ich mir immer noch nicht sicher, wie dieses mysteriöse Geflecht gegenseitiger Wertschätzung, Vertrautheit und Treue eigentlich zustande kommt, das irgendwann – manchmal nach ein paar Tagen, manchmal erst nach Jahren – eine sogenannte wahre Freundschaft hervorbringt. So viele unterschiedliche Formen kann diese Zweierbeziehung annehmen, so unerwartet prägt sie unser Leben.
Ralph Waldo Emerson schrieb einmal: “Der beste Weg, einen Freund zu haben, ist der, selbst einer zu sein.” Klingt wunderbar logisch, ist aber deutlich leichter gesagt als getan. Wenn wir immer am selben Platz geblieben wären, hätte sich Emersons Rat vielleicht einfacher umsetzen lassen. Doch wir waren rastlos und mit jedem Umzug mussten wir von vorne anfangen: erst vom Land in die Stadt, dann von einer Stadt in die nächste, schließlich in verschiedene Länder.
Als Erwachsene neue Freunde zu finden, ist um vieles schwerer, als im Kindergartenalter, findest du nicht auch? Keusches Partnershopping ist fast so stressbehaftet wie die Vollversion: wir nehmen Kontakt auf, prüfen uns auf Kompatibilität, nähern uns an und spätestens nach der dritten Session im Kaffeehaus oder an der Cocktailbar beschliessen wir, ob das noch was wird, mit uns beiden. Unbeholfen und peinlich kann sich das anfühlen, ganz abgesehen vom schier bodenlosen Potential für Kränkungen bis hin zu richtigem Kummer.
Herzensangelegenheit Freundschaft
Alle Freundschaften, selbst die fehlgezündeten, sind eine Angelegenheit des Herzens. Da hat die Ratio wenig zu melden. Vielleicht denken wir nicht oft genug darüber nach, wie unerklärlich und dennoch essentiell Freundschaft in unserem Leben ist. Vielleicht ist das auch besser so, denn viele Freundschaften sind ja gerade dann besonders bereichernd, wenn man nicht allzu viel darüber nachdenken muss, ja wenn man sie noch nicht einmal richtig versteht.
Wie unsere Freundschaft, zum Beispiel. Die ist mir immer wieder ein Rätsel. Oberflächlich gesehen, sind wir ziemlich verschiedene Typen: wir leben, lieben, denken und arbeiten teilweise grundauf anders. Trotzdem verstehen wir uns, können uns Dinge anvertrauen, die sonst keiner wissen darf, sind immer füreinander da – wenn oft auch nur in Gedanken oder virtuell.
Manchmal Frage ich mich, was diese Freundschaft wirklich ausmacht. Reine Gewohnheit kann es nicht sein, dafür haben wir zu viel Spass. Pflichtbewusstsein? Sicher nicht, dafür beziehen wir zu viel Kraft aus der Sache. Ein angeborenes Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe? Teilweise, aber als Erklärung irgendwie zu eindimensional.
Ich habe eine Theorie. Zugegeben, sie beruht auf keinen wissenschaftlichen Fakten. Außerdem lehnt sie sich stark an ein inspirierendes Zitat an, das ich irgendwann einmal online gelesen habe. Es ging zirka so: Freunde sind Menschen, die deine Vergangenheit akzeptieren, deine Gegenwart erfüllen und deine Zukunft mittragen. Ja, das ist natürlich absoluter Kitsch. Aber immer noch besser als ein anderer Spruch, den man manchmal hört: “Freundschaft zwischen Frauen ist nicht viel mehr als ein Nichtangriffspakt.” (Herzlichen Dank auch, Henry de Montherlant.)
Ein wichtiger Teil meiner Theorie ist das Bewusstsein, dass jede Freundschaft eine geheimnisvolle Essenz hat, die sich patchworkhaft aus den verwertbaren Überbleibseln von Erinnerungen, Gefühlen, Gedanken und Erwartungen zusammensetzt. Dieses Flickwerk ist nie fertig, befindet sich immer im Wandel. Bei dem Gedanken kommt eine Flut von Erinnerungsfetzen und Bildern von Früher über mich, von damals, als wir noch ganz klein waren. Viele Teile, die sich zu einem wundervollen Ganzen fügen wollen. Ich glaube, ich möchte ein paar solcher Fragmente hier festhalten, ganz à la Françoise Heritiers “Das ist das Leben”.
Mit sechs Jahren
Auf einem Drehscheibentelefon mit Spiralkabel die zweite Telefonnummer wählen, die ich je auswendig wusste, um zu fragen, ob wir uns heute zum Spielen treffen. Bei Sonnenuntergang von den Eltern aus dem Wald geholt werden. Zu zweit auf dem Fahrrad einen steilen Hügel hinunter brausen, obwohl es verboten ist. Aus dem Kinderzimmer einem Streit der Eltern zuhören und nicht recht wissen, worum es geht und wie wir uns verhalten sollen. In den Sommerferien Tag und Nacht miteinander verbringen.
Uns gegen “die Buben” verschwören. Laut Kassetten hören. Ganze Nachmittage auf Bäumen verbringen. Das Kribbeln im Bauch, wenn ein Sommergewitter aufkommt, der Wind anfängt in den Blätter zu rauschen und die Äste, auf denen wir sitzen, so richtig schön hin und her schaukeln. Das erschreckende Ringen nach Luft, nachdem man aus einiger Höhe mit dem Rücken im Laub aufschlägt.
Der erste Tag in einer Volksschule, in der ich niemanden kenne, weil wir gerade erst umgezogen sind. Nicht Hand in Hand, in Zweierreihe, einen Gehsteig entlang gehen wollen. Die Kletterbäume im Stadtpark nicht spannend genug finden. Die Sehnsucht nach den Wochenenden, an denen wir uns noch besucht haben: meistens war ich bei euch am Land, du nur ein paar mal bei uns in der Stadt. Das Gefühl, am völlig falschen Ort zu sein. Die Hoffnung, die Eltern doch noch irgendwie überreden zu können, wieder zurück zu ziehen.
Jetzt kann ich nicht aufhören, die Sache kommt doch gerade erst in Schwung. Wir springen ins nächste Zeitalter:
Mit sechzehn
Von Lachkrämpfen geschüttelt in der Straßenbahn sitzen. Gemeinsam und mit wechselhaftem Erfolg verschiedene Kleidungsstile und Haarschnitte ausprobieren. Zu viel Make-Up und Parfum tragen. Sich von Vätern und grossen Brüdern entfremdet zu fühlen, sich manchmal sogar vor ihnen zu ekeln, einfach weil sie Männer sind. Sich ernsthaft darüber den Kopf zu zerbrechen, was andere von uns denken. Sich nach einem idiotischen Streit wieder in die Arme zu fallen. Das Aufkeimen der ewigen Frage, warum wir nicht schöner, dünner und cooler sind; und ob wir es wohl jemals sein werden.
Die Ansichten der Eltern für veraltet und fragwürdig, dafür die Ansichten der grossen Geschwister für Gospel halten. Sich in Diskussionen über Buddhismus, Kommunismus und Musik verzetteln. Zu jung in Clubs reingelassen werden und von den Erlebnissen dort leicht überfordert sein. Sich ohne wenn und aber zu zweit Shots spendieren lassen. Gegen Sonnenaufgang mit Blasen an den Füßen durch die Innenstadt nach hause gehen. Gemeinsam auf Urlaub fahren.
Stress damit haben, immer so zu tun, als wüsste man schon alles, hätte alles schon mal gesehen. Die Genugtuung, wenn man bei Gesprächen zwischen älteren Teenagern und jungen Studenten mithalten kann. Der Schreck, wenn man tatsächlich einmal wie eine von ihnen behandelt wird, vor allem vom anderen Geschlecht. Plötzlich einen Freund und weniger Zeit füreinander haben. Den ersten echten Liebeskummer überwinden. Sich gemeinsam fragen, was eigentlich so toll an diesem oder jenem Deppen gewesen sein soll.
In Rollkragenpullis investieren, um Knutschflecken zu verstecken. Nach einem One-Night-Stand zehn Tage Wartezeit bis zum Ergebnis eines HIV-Tests aushalten. Laut CDs hören und dabei im Schlafzimmer tanzend eine halbe Flasche Bacardi austrinken.
Wieder ein Sprung nach vorn, sonst wird das hier zu lang.
Mit sechsundzwanzig
In anderen Ländern wohnen und sich trotzdem nahe fühlen. Sich in der Öffentlichkeit daneben zu benehmen und zu überlegen, ob man wohl jemals erwachsen wird. Gemeinsam die Geld- und Beziehungsprobleme der Eltern analysieren und beschließen, es besser zu machen. Die Schrullen des anderen kennen und akzeptieren lernen. Sich über fiese Kollegen und Chefs den Mund zerreissen.
Das wohlige Gefühl, selbst verdientes Geld am Konto zu haben. Ein wenig neidisch werden, wenn du von deiner kreativen Arbeit und deinem spannenden Alltag erzählst. Dein Unbehagen dabei, von mir Geld auszuleihen.
Immerzu planen endlich einmal wieder gemeinsam auf Urlaub zu fahren und es dann doch nicht tun. Ernsthafte Beziehungen führen und ausgiebig sezieren. Sich nur noch in Ausnahmefällen zu zweit Drinks spendieren lassen. Verlobungen und Hochzeiten von Freunden feiern. Sich fragen, warum wir immer noch nicht schöner, dünner und cooler sind; und ob wir es wohl jemals sein werden.
Einander die größten Träume und Zweifel anvertrauen. Das mulmige Ziehen im Bauch, wenn ich dir eine schlechte Nachricht mitteilen muss, wo ich doch eigentlich lieber über etwas Harmloses reden würde, wie früher. Unsere surrealen Gespräche, meist abends, die assoziativ manchmal so abheben, dass wir beide nicht mehr wissen, worum es gerade geht.
Mit sechsunddreißig
Sich plaudernd mit dem Rätsel beschäftigen, wie die letzten drei Jahrzehnte nur so schnell vergehen konnten. Eingehend die eigenen Geld- und Beziehungsthemen analysieren. Dankend ablehnen, wenn uns ein Drink angeboten wird.
Unangenehme Diagnostik über sich ergehen lassen und danach gemeinsam darüber zu lachen. Bei deinem Umzug in ein anderes Land mitfiebern und Pläne für meinen ersten Besuch schmieden. Herbe Rückschläge und Verluste gemeinsam verdauen. Ein schlechtes Gewissen haben, weil man schon wieder keine besonders guten Neuigkeiten hat. Sich gegenseitig Selbsthilfeprogramme und Entschlackungskuren empfehlen. Auch einmal gemeinsam schweigen, ohne dass es unangenehm wird.
Von Kindern, Partnern und Mitbewohnern unterbrochene Gespräche führen. Uns nach vielen Monaten endlich wieder sehen und kopfschüttelnd feststellen, dass die Welt seit unserem letzten Treffen nicht wieder zu erkennen ist.
Sich fragen, ob wir jemals wieder so schön, dünn und cool sein werden, wie früher. Kaum glauben können, was für alte Schachteln wir doch geworden sind. Die Abmachung treffen, irgendwann, irgendwo – am besten an einem Ort, wo die Sonne scheint und die laufenden Kosten sich in Grenzen halten – eine Alters-WG zu gründen.
Fortsetzung folgt (hoffentlich)
Du siehst, ich bin ganz schön hinein gekippt, in mein Gedankenexperiment. Aber wie man so schön sagt, “entschuldige meinen langen Brief, für einen kurzen hatte ich keine Zeit."
Ich hoffe, dass ich diese höchst unwissenschaftlichen Aufzeichnungen irgendwann fortsetzen kann. Obwohl ich zugeben muss, dass mir bei der Vorstellung auch ein wenig mulmig wird. Wie dem auch sei, vorerst werde ich die allgemeine Theorie unserer Freundschaft, samt dazugehöriger Aufzeichnungen, erst einmal ad acta legen. Alles andere, meine Liebe, lassen wir einfach auf uns zukommen, findest du nicht?
Eines noch zum Schluss: Danke fürs Lesen. Und für alles andere natürlich auch.
Deine alte Freundin Du-weißt-schon-wer
Geschenke für Deine beste Freundin aus unserer Online Boutique
Unsere Autorin
Lisa Reinisch ist Journalistin und Autorin. Ihre Arbeit erschien in internationalen Medien. Unter anderem in Monocle, Wanderlust, Sunday Times Travel. In den VAE, wo sie von 2009 bis 2019 lebte, schrieb sie für The National, Harper's Bazaar Art und das Abu Dhabi Film Festival. In 2018, co-gründete sie Project ECARUS um das erste solarbetriebene Expeditionsfahrzeug zu bauen.